Helden, die schaffenswütig und zugleich selbstzerstörerisch sind, kommen im Werk von Connie Palmen immer wieder vor. Die niederländische Schriftstellerin umkreist diese ambivalenten Charaktere schon mal mit mehreren Stimmen, die ihre eigene Sichtweise auf das Geschehen erzählen. In „Ganz der Ihre“ oder „I.M.“ beispielsweise nahm sie ihre Vorbilder aus der Realität – und destillierte Fragestellungen, die schon lange vorher in ihrer Seele gegärt hatten und nur der Fiktionalisierung harrten. So ist es auch im neuen Roman „Luzifer“ gewesen, hat Pascal Fischer im Gespräch mit der Autorin erfahren.
„24 Jahre her las ich einen Satz in der Zeitung. Ich sah eine Todesanzeige, da stand: ‚Unser schöner wilder Vogel ist von uns weggeflogen’. Das war schockierend, weil es so persönlich war, und weil es suggerierte, dass es Selbstmord war.“
In ihrem neuen Buch hat Connie Palmen einen wahren Fall aus den 80er Jahren aufgegriffen. Glücklicherweise geht die Autorin über einen Schlüsselroman hinaus und dringt zum unheimlichen Kern der Geschichte vor.
Der Komponist Lucas Loos und seine Frau Clara verbringen ihre Ferien auf einer ägäischen Insel. Bei einem Essen mit Bekannten stürzt Clara von der Mauer des Ferienhauses. Ein Unfall? Selbstmord? Die einzigen Zeugen, zwei Amerikaner, Urlaubsbekanntschaften, sind später unauffindbar. Die Freunde daheim in Holland schöpfen Verdacht: Lucas, immer auf der Suche nach existentieller Erfahrung, hat seine Frau umgebracht, um sich Inspiration für seine messianischen Kompositionen zu schaffen. Luzifer in Gestalt eines größenwahnsinnigen Künstlers.
„Das ist typisch an dieser Figur von Luzifer: Engel, aber gefallener Engel. Diese Zwiespältigkeit, diese Sehnsucht nach Gott und die Künstlerschaft,… habe ich ganz in diesen Komponisten hineingeführt, der zu gleicher Zeit Künstler ist, der aber etwas in seinem Charakter hat, das ihn sehnen lässt nach diesem Gott, oder nach der einen Wahrheit, die er predigen kann.“
Eine Amsterdamer Künstlerrunde diskutiert angebliche Hinweise in den Kompositionen von Lucas. Vielleicht hat er seine Frau nicht umgebracht, aber war froh über diesen morbiden, inspirierenden Zufall? Hier hat die Autorin geistreiche Parallelen zu anderen Künstlern eingeflochten, zum Beispiel zu Tschaikowski, der seinen Tod angeblich vorausahnte und das in seiner Symphonie Pathétique ausdrückte. Spannende Einsichten in das künstlerische Schaffen sind das. Darüber hinaus gelingen Connie Palmen hier treffende und lebendige Schilderungen der Künstlerbohème aus dem Amsterdam der Achtziger Jahre. Vor allem deshalb, weil sie das alternative Milieu als elitären Zirkel entlarvt. Als Gemeinschaft, die auf der Suche nach einer Lüge selbst durch ihre erfundenen Geschichten zusammengehalten wird, wie jede religiöse, marxistische oder bürgerliche Gruppe.
„Wir haben nur Erzählungen, nur Geschichten…Erzählungen entstehen nur, weil die Wahrheit nicht bekannt ist. Wenn es eine Wahrheit gab, wäre Literatur nicht möglich. Wie sind Geschichten möglich, was braucht man dazu? Man braucht das typisch Menschliche: Dass ein Mensch nicht mit Zufall umgehen kann. Er braucht eine Bedeutung. …Er erträgt es nicht, dass es Pech ist oder Zufall.“
Konsequenterweise verzichtet Connie Palmen auf einen allwissenden Erzähler und eine Auflösung am Ende. 400 Seiten scheinen zwar bisweilen durch die übertrieben realistischen Dialoge mit all ihren Einwürfen etwas lang, aber das kann den Reiz des Luzifermotivs nicht schmälern.