Eine hügelige, grasbewachsene Straße. Es geht an Kühen und Eseln vorbei, Pappschilder kündigen Restaurants an, die sich als verfallene Bauernhütten entpuppen. Fast meint man, jemand habe die Zeit zurückgedreht in diesem verlassenen Niemandsland einer ehemaligen, namenlosen Sowjetrepublik. Hella Bruns ist hier unterwegs: Sie hat ihren 13jährigen Sohn Tobi bei einem Verkehrsunfall verloren. Kurz zuvor hatte er in einem Preisausschreiben eine Reise zum Mond gewonnen. Weil er diese phantastische Reise selbst nicht mehr antreten konnte, macht sich nun Hella an seiner Stelle auf zu einem Weltraumbahnhof irgendwo in der zentralasiatischen Steppe. Autor Jo Lendle:

„Vielleicht ist sie innerlich am ehesten auf der Flucht, weil sie nirgendwo hin möchte, sondern eher fort von etwas. Und sie kommt eigentlich zufällig zu dieser absurden Reise zum Mond, wo ja niemand hin will, und sie am allerwenigsten!“

Kurioserweise unternahm Lendle selbst eine Recherchereise zum kasachischen Weltraumbahnhof Baikonur, aber erst nachdem er das Buch „Die Kosmonautin“ schon zu großen Teilen fertiggeschrieben hatte.

„Es sollte so ein ‚Halb auf dem Weg zum Mond’ sein. Und ich wünschte mir, dass dieser Ort schon nicht mehr von dieser Welt ist, unwirklich, ohne Namen. Ich möchte den mir erst vorstellen und niederschreiben, dann erst zu einem konkreten Ort fahren, damit er nicht zu real gerät.“

Schließlich kommt Hella auf dem Weltraumbahnhof an, einer umzäunten Fläche mit fensterlosen Hallen, staubfarbenen Kleinbussen auf Teerflächen, alles inmitten vereinzelter Zedern und ausgetrockneter Büsche. Hier erhält sie einen Wohnraum und absolviert das Trainingsprogramm für zukünftige Raumfahrer. Sie freundet sich mit anderen Kosmonauten, mit Trainern und Köchinnen an, doch Dialoge bleiben in dieser Geisterstadt selten. Als Hella schließlich ins Weltall fliegt, lässt sie alles zurück, fliegt schwerelos und haltlos ins schwarze Nichts hinaus. Gekonnt verdichtet Lendle die Parallelen zwischen Hellas Raumfahrt und ihrer Haltlosigkeit im Leben nach dem Tod ihres Sohnes. Glücklicherweise verzichtet der Autor dabei auf allzu technische Details.

„Es ist ja kein Science Fiction … Richtige Raketen werden mit der Rückseite zur Startrampe gefahren und dann aufgestellt, das ist einfacher, sonst müsste man sie erst umdrehen. In meinem Buch fährt die Rakete natürlich andersherum, weil es viel schöner ist, zu beschreiben, als flöge sie heran. Ich bin bereit, zu ertragen, wenn jemand mir vorwirft, dass das falsch ist, weil ich glaube, dass es eine innere literarische Wahrheit gibt.

Es gibt ja in der Literaturgeschichte eine große Tradition der Mondfahrten. Die meisten davon sind spektakulär untechnisch und unrealistisch. Wenn man sich anschaut, wie sich die Leute in Jules Vernes Romanen in Samtfauteils setzen und sich unterhalten, dann ist das schon sehr nahe an der Irrealität dran…“

Still schwebt der Leser mit Hella auf dieser Reise mit. Der irreale Handlungsort und die traumgleiche Entschleunigung im Buch kreieren eine Atmosphäre, wie man sie aus Filmen von Andrej Tarkowski kennt. Rückblenden verstärken diesen Effekt: Wir erfahren, wie Hellas Sohn Tobi schon als kleines Kind die Wohnung mit Basteleien zum Sonnensystem umbaute, wie lebendig er war, wenn er Luftgitarre spielte, wie taub Hella sich fühlte, als sie von seinem Verkehrsunfall hörte. Schnörkellos und doch eindrucksvoll gelingt Lendle das, weil er schon, alles, was Hella sieht, mit ihrer Stimmung einfärbt: Kirchtürme werden zu Wegweisern nach oben, die vorbeiziehenden Lichter der Straßenlaternen erinnern sie an Sterne, jede Straßenkuppe bringt Hella für kurze Zeit dem Mond näher.

„Wir kommen immer wieder in Bereiche, wo Hella sich fragt: Was wäre nötig, um die Dinge ganz anders zu sehen? Es ist eine Grundskepsis, aber es ist auch eine Grundoffenheit. Wie viel von unserer Konstruktion von Wirklichkeit besteht aus Übereinkünften? Wenn wir früher annahmen, die Sonne gehe auf, was wir immer noch sagen, obwohl wir es anders zu wissen glauben…das ist auch eine Möglichkeit, die Dinge zu beschreiben.“

„Die Kosmonautin“ ist Jo Lendles zweites Buch. Schon sein Erstling, eine Erzählsammlung mit dem Titel „Unter Mardern“, beschäftigte sich mit der Skepsis gegenüber unserer Wahrnehmung und Sprache. Das Spiel mit sprachlichen Formen überwog die kaum vorhandene Handlung. Das neue Buch ist demgegenüber leichter lesbar, stellt aber ähnliche Fragen: Woher wissen wir, wie die Erde und das Universum beschaffen sind? Wie lässt sich das in Sprache fassen? Und wie beeinflusst die Sprache unseren Umgang mit unseren Erinnerungen?

„Die Kosmonautin“ ist eine nachdenkliche Parabel darüber, wie und ob man aus dem Alltag – und vor dem Schmerz fliehen kann. Diese Fragen und die durchgehaltene Atmosphäre machen das Buch zu einem leisen Lesegenuss.

„Die Kosmonautin“ von Jo Lendle ist bei der Deutschen Verlagsanstalt erschienen und kostet 16 Euro 95.

(für SWR2)