Die New Yorkerin Diane Williams ist die Queen der „flash fiction“. Ihre ultrakurzen Prosastücke zeigen, dass jede Alltagssituation zum existentiellen Beben werden kann. Trotz der Kürze gelingen Williams in dem Band „Dangeresque“ mehrdeutige, überraschende oder pointierte Texte, die mal Lachen, mal Bedrückung erzeugen. Erstmals auf Deutsch und eine echte Entdeckung.

Eine Handvoll Bücher ist von ihr schon in den USA erschienen, doch die New Yorkerin Diane Williams ist hierzulande nahezu unbekannt – obwohl sie schon 1946 geboren ist und seit rund 40 Jahren schreibt. Denn Williams’ ultrakurze Prosa, die „flash fiction“, galt lange hüben wie drüben nicht recht als Literatur. Das möchte nun der Diaphanes-Verlag aus Zürich ändern und bringt mit „Dangeresque“ eine Sammlung auf Deutsch heraus.

Nichts scheint in unsere gehetzte Gegenwart besser zu passen als eine komprimierte Literatur, die schnell zu konsumieren ist. Vor Jahren bestaunte man zum Beispiel eine Weile die „Twitteratur“, Minitexte in einzelnen oder mehreren Tweets, als hätte erst das Web 2.0 kondensierte Texte hervorgebracht. Dabei gab es so etwas schon in geradezu prophetischer Weise ab 1990, als Diane Williams den ersten Band ihrer „flash fiction“ veröffentlichte. Die New Yorkerin blieb dem Genre treu und publizierte 2018 ihre gesammelten Kurztexte. Daraus hat der Diaphanes-Verlag nun eine kleine, feine, repräsentative Auswahl getroffen und im Bändchen „Dangeresque“ dem deutschen Publikum zugänglich gemacht.

51 Texte sind das, mal nur wenige Sätze, mal ein paar mehr auf ein bis zwei Buchseiten. Diese Skizzen reduzieren Vieles aufs Allernotwendigste: die Identität der Figuren, Zeit, Ort, Umfeld; doch immer geraten mindestens zwei Figuren aneinander. Beim Kindergeburtstag, im Badezimmer, Keller, beim Einkauf oder beim Abendessen. Jede Alltagssituation ist potentiell gefährlich und kann zum existentiellen Beben werden – durch Entdeckungen, Missgeschicke, Offenbarungen. Etwa, wenn ein Mann seiner Frau lakonisch gesteht: „Ich mag dich nicht besonders und finde dich nicht attraktiv.“

Insbesondere um die Ehe als Gefängnis geht es. Ehefrauen werden mehrfach zu Dienstmägden herabgewürdigt, die von ihren Männern Unterhalt gegen Sexverpflichtungen erhalten. Immer wieder gebiert der Ennui Affären oder Handgreiflichkeiten. Der Verlag vermarktet das deshalb als „feministische Fiction“. Die Grundkonstellationen jedoch sind zutiefst allgemein-menschlich: Illusionen zerbrechen, Machtverhältnisse treten zu Tage, Lebensträume zerplatzen, Naivität verschwindet für immer, meist im intimsten Raum zwischen zwei Menschen.

Oft aber sind die Wendungen drastischer als bloße Geständnisse. Ein notorischer Fremdgänger etwa formuliert aus heiterem Himmel einen Mordplan gegen seine Ehefrau. Anderswo backt ein Hausherr entspannt Kuchen, bis ein Gast den Kühlschrank in der Küche öffnet und eine frische Frauenleiche darin findet.

Gerade, wenn Diane Williams aus der Ichperspektive erzählt, setzt sie auf unerwartete Details, welche die bisherige Interpretation der Geschichte umdrehen – und einem regelrecht Faustschläge verpassen. Mehr als einmal ist von hemmungslosem Sex mit einem Mann, Ehemann oder möglicherweise Liebhaber die Rede, und erst am Ende wird klar: Das erzählt gerade eine Minderjährige. Gerne entlässt ein Text die Leser auch noch genau dann, nach diesem Schock, unvermittelt.

So ein offenes Ende gleicht dem der klassischen Kurzgeschichte und verunsichert doch meist noch mehr, weil die Textform notgedrungen eine Skizze ist und noch mehr unbestimmt lässt. Diane Williams macht diese Not zur Tugend, wenn die Figuren mehr als einmal anmerken, es gebe hier noch viel Monströseres zu berichten. Dann wachsen die dunklen Ahnungen der Lesenden ins Unendliche – die maximale Effekt-Ausbeute einer minimalen Form!

Diese Strategie funktioniert allerdings nicht immer. Diane Williams hat zwar einmal versichert, sie wolle keinerlei Inhalt absichtlich verdunkeln oder verkomplizieren. Aber in einigen Fällen gerät das Ende beliebig, allzu verrätselt oder unlogisch und produziert mehr Verwirrung als ihre süffige Irritations-Ästhetik.

Man sollte sich in jedem Fall auf Texte gefasst machen, die eine konzentrierte Lektüre erfordern. Manchmal liefert allein die Überschrift einen Hinweis, worum es geht, wenn zum Beispiel die Icherzählerin angesichts einer toten Maus im Garten plötzlich assoziiert, wie ihre Vorfahren auf der Flucht waren. Durch den Titel „Jüdischkeit“ ahnt man, dass es um nichts weniger als den Holocaust geht. Das klingt jetzt gewagt, aber Diane Williams kondensiert ihre Sujets meisterhaft und schmerzlich glaubhaft. Auch deshalb ist eine wohldosierte Lektüre von jeweils nur wenigen Stories nacheinander anzuraten.

Sabine Schulz hat die unterschiedlichen Tonlagen zwischen nüchtern, zynisch, hinterhältig, gelangweilt und belustigt sorgfältig ins Deutsche übertragen. Bewundernswerte Miniaturen, der Form nach zeitgemäß, dem Inhalt nach zeitlos! Hoffentlich folgen bald die gesammelten Erzählungen!

Diane Williams: Dangeresque. 51 Stories. Übersetzt von Sabine Schulz. Erschienen bei Diaphanes. 128 Seiten kosten 15 Euro.

Für begrenzte Zeit nachhörbar bei der SWR2 Lesenswert Kritik.