Sind wir zu dumm oder faul, um die Klimakrise oder die Pandemie zu bewältigen? Nein, erklärt der Soziologe Armin Nassehi in „Unbehagen“: Die Gesellschaft scheitert schlicht an ihrer eigenen Komplexität – ständig! Nötig seien daher kleine, praktizierbare, motivierende Veränderungen im Alltag.

Der Soziologe Armin Nassehi ist nicht umsonst 2018 mit dem Preis für Herausragende Leistungen auf dem Gebiet der öffentlichen Wirksamkeit der Soziologie ausgezeichnet worden: Immer wieder greift der Münchener Soziologie-Professor mit Fachwissen in aktuelle Debatten ein, ob in TV-Sendereihen oder Zeitungsartikeln oder in zahlreichen Expertenrat-Runden zu den Themen Corona, Ethik, Wirtschaft. Mit seinem gewohnt systemtheoretischen Ansatz will er in seinem neuesten Buch nun erklären, woher unser grundlegendes Unbehagen gegenüber der Gesellschaft herrührt.

Und die Grundfrage seines neuen Buches „Unbehagen“ stellt Armin Nassehi gleich anfangs mehrfach. Es ist die Frage, die ihm viele Soziologie-Erstsemester stellen: Warum kriegen wir Probleme wie den Klimawandel nicht in den Griff, obwohl wir so viel wissen und können? Warum schießen irgendwelche Leute immer quer – haben sie Anpassungsprobleme an die Gesellschaft? Erzeugt gerade das Unbehagen, wie Freud einst vermutete?

Seine eigene Antwort entfaltet der Systemtheoretiker Armin Nassehi in einem langen Argumentationsbogen, und kurz gefasst lautet sie: Die Gesellschaft ist eben so – sie ist kein Individuum, das nur „einfach mal wollen“ muss, sondern komplex: gut in Spezialsystemen, die Spezialprobleme lösen können, aber schlecht, wenn es um vereintes Handeln aus einem Guss geht. Das zeigt sich insbesondere am Krisenmanagement in der Corona-Pandemie: Wir haben das nicht vergeigt, obwohl wir es besser könnten, sondern die Krisenhaftigkeit ist der Dauerzustand, sagt Nassehi!

Denn die einzelnen Bereiche unserer Gesellschaft legen sich ständig gegenseitig Steine in den Weg: Wenn zum Beispiel die Medizin den Total-Lockdown empfiehlt, tut sie damit dem Bildungssystem weh. Außerdem stehen sich die einzelnen „Subsysteme“ selbst im Weg: Beispiel demokratisches System: Wie soll ein Politiker eine harte Klimapolitik propagieren, wenn er dafür dann abgewählt wird?

Die ausdifferenzierte Gesellschaft hat nun einmal das strukturelle Problem, dass sich auf der Sachebene unterschiedliche Subsysteme ständig widersprechen. Durch rührende, ja kitschige Appelle auf der sozialen Ebene, durch Appelle zu „mehr Zusammenhalt“, lässt sich das nicht lösen. Schon allein, weil es „die Gesellschaft“ als wohldefinierbare, ansprechbare Einheit gar nicht gibt. Wer das trotzdem noch glaubt, begibt sich letztlich in die Nähe jener vermeintlicher Einheitserzählungen wie Rassismus, Kommunismus oder auch Nationalismus – mit den bekannten Folgen.

Aber spricht nicht etwa das harte und erfolgreiche Durchgreifen von China in der Pandemie dafür, dass man das Chaos der liberalen, pluralistischen Demokratie irgendwie in den Griff bekommen könnte – und sollte? In Auseinandersetzung mit dem chinesischen Philosophen Tinyang Zhao meint Nassehi: Nein! Schlussendlich müssten wir dann unsere Freiheit und unseren Rechtsstaat opfern zugunsten eines Kollektivismus. Wir müssen leider einsehen, dass uns die Gesellschaft höchstselbst in der Demokratie bei Problemlösungen ausbremst.

Nassehis Vorschläge am Ende sind ebenso abstrakt wie seine Diagnosen. Insbesondere für den Klimawandel schlägt er vor: Wenn wir nicht die heiß ersehnte „große Transformation“ im Stile eines disruptiven System-Resets hinbekommen, dann helfen nur die kleinen Schritte, die kleinen Anpassungen von Gewohnheiten im Alltag, eher Evolution denn Revolution. Möglicherweise nicht aufgedrückt vom Staat, sondern durch die leisen Kräfte des Marktes, der die helfenden Technologien schon finden und durchsetzen wird, hofft Nassehi – in Anlehnung an das „trade tested betterment“ der liberalen amerikanischen Ökonomin Deirdre McCloskey.

Statt durch rationale Appelle werden die Bürger dann eher in einer spielerischen Konsumlogik davon überzeugt, klimafreundliche Produkte zu nutzen. Hier heruntergebrochen klingt das fast wie ein Wahlkampf-Flyer der FDP. Dabei ist das Buch eine tiefschürfende, geistreiche Analyse des Problems und kommentiert en passant die Grenzen der Konzepte von Fachkollegen, darunter Andreas Reckwitz, Hartmut Rosa oder Bruno Latour.

Insbesondere das Unbehagen, das die Identitätspolitik heute auslöst, bringt Nassehi zudem in Seitenschlenkern wunderbar auf den Punkt – ob es nun um die Paradoxien geht, in die sie sich verstrickt, oder den offensichtlichen Rückfall in geradezu mittelalterliche familiale Logiken und die biologistische Orientierung an äußeren Merkmalen, wenn eben Menschen wieder in feste Gruppen eingeteilt werden. Vor ungewollt erzeugtem Unbehagen, lernt man, ist kein Ort der Gesellschaft gefeit!

Armin Nassehi: Unbehagen. Theorie der überforderten Gesellschaft. Erschienen im Beck-Verlag. 384 Seiten kosten 26 Euro.

Für begrenzte Zeit nachhörbar auf den Seiten der SWR2 Lesenswert Kritik.