Dass sie ein Adoptivkind war, wusste die Autorin Amy Michael Homes, Künstlername A.M. Homes, schon lange. Ihre wahren Eltern kannte sie nicht, fantasierte sich aber Paare wie Jack Kerouac und Susan Sontag zusammen. Erst im Alter von 31 Jahren erfährt sie die Geschichte ihrer leiblichen Eltern: Die Mutter hatte eine jahrelange Affäre mit ihrem Chef und wurde mit 22 Jahren schwanger. Allen Versprechungen auf Heirat zum Trotz ließ ihr Chef sie fallen, und so kam es zur Adoption. Die „Tochter der Geliebten“ sucht nun nach ihrer Identität, und dies mündet schließlich in eine Autobiographie.

„Ich habe das veröffentlicht, weil ich anderen Menschen zeigen wollte, was es heißt, aufgegeben und adoptiert zu werden. Damit kämpfen viele Leute. Es liegt eigentlich nicht in der menschlichen Natur, die Identität eines anderen komplett zu negieren. Das ist ein spezielles soziales Konstrukt, aber wir als Gesellschaft erlauben, dass so etwas passiert.“

A.M.Homes nimmt Kontakt mit ihrer biologischen Mutter Ellen auf. Die hat eine abstoßend tiefe, nasale, animalische Stimme und überfällt A.M.Homes mit einer schier unverwindbaren Sucht nach Nähe. Eines Tages sollte jemand ein Porträt von Mutter und Tochter malen, schlägt sie etwa vor. Und als sie nierenkrank wird, fordert sie fast eine Organspende von der Tochter, die sie einst weggegeben hat.

„Sie hatte nie das Leben einer Erwachsenen. Sie hatte diese Affäire, bekam ein Kind, gab es weg, heiratete nie und entkam ihrer Geschichte einfach nicht. Das ist wirklich traurig. Ihre Eltern haben sich nie um sie gekümmert. Sie war eine tragische Figur und wollte, dass jemand sich um sie kümmert. Aber ich wollte das nicht machen!“

Auch der Kontakt zu ihrem leiblichen Vater Norman gestaltet sich nicht besser. Er schlägt einen DNA-Test vor, aber als der positiv ausfällt, fürchtet Norman Erbstreitigkeiten.  Die Autorin verdichtet alles in griffigen Sätzen, deren Wucht den Leser auf jeder zweiten Seite trifft, etwa: Adoptiert zu werden, das sei wie amputiert und wieder zusammengenäht zu werden.

Homes sieht die körperliche Ähnlichkeit zu ihrem Vater und erlebt zum ersten Mal die dadurch ausgelösten ambivalenten Gefühle: Zugehörigkeit, gleichzeitig aber das Gefühl genetischer Determiniertheit.

„Wenn das in der Adoptivfamilie nicht da ist, ist das befreiend, aber auch beängstigend, weil man nicht weiß, wer man ist. Biologie kann einen verdammen. Biologie und Soziales sind verbunden, das begriff ich. Wenn man seine wahren Eltern trifft, verändert man seine Biologie, allein schon, weil der Körper Reaktionen zeigt. Man kann nie unterscheiden, was Biologie und was soziale Erfahrung ist.“

Adoptionen schaffen ein unvorstellbar komplexes Beziehungsgeflecht. Die Verkennungen, die sich im Falle von A.M.Homes ergaben, ballt die Autorin in schlichten Absätzen zusammen: Die Adoptivmutter leidet stets unter dem Gefühl, dass ihr ihre Adoptivtochter nun weggenommen wird. Ellen wiederum denkt, ihre leibliche Tochter müsse sich nun ihr gegenüber verhalten wie eine Mutter; und ihr Vater Norman behandelt Homes bei den wenigen Treffen wie eine verstoßene Geliebte– und bricht den Kontakt schließlich ganz ab.

„Es ist ziemlich traurig. Letztlich kenne ich seine Gründe nicht. Und ich werde so vieles über seine Familie nicht wissen, also, was das für Leute waren…“

Formell spiegelt das Buch diese Suche: Seitenlange Fragekataloge ohne Antworten stehen da; Homes denkt sich Szenen über ihre Eltern aus, und markiert das explizit als eine Weise der Verarbeitung. Sie betreibt die uramerikanischste Form der Selbsterkenntnis, die Ahnenforschung – nur um sich in zig Lebensläufen möglicher Ahnen zu verlieren.

Äußerst faszinierend und fesselnd ist es, mitzuerleben, wie eine Erzählerin mit der lückenhaften Erzählung ihres eigenen Lebens umgeht. Am Ende begreift Homes, dass sie mit ihren leiblichen Eltern nie hätte aufwachsen können – und schreibt sich, nun willentlich, erneut in ihre Adoptivfamilie ein.

„Als Teenager fühlte ich mich illegitim und wusste nicht, ob ich überhaupt hier sein sollte. Ich brauchte viele Jahre, um darüber hinwegzukommen. Heute denke ich: Ja, ich habe es sogar verdient, hier zu sein, vielleicht sogar mehr als die anderen Mitglieder meiner biologischen Familie.“

…denn: Dies ist mehr als eine bloße Adoptionsgeschichte: Es ist die tief berührende Urerzählung des postmodernen Menschen, der begreift, dass keine vorgegebene Erzählung ihn im Leben festigt, sondern dass er sich seine Erzählungen selbst aneignen und schaffen muss.

A.M. Homes: „Die Tochter der Geliebten“ wurde von Ingo Herzke übersetzt, ist bei Kiepenheuer und Witsch erschienen, hat 236 Seiten und kostet 17 Euro 95.

Rezensiert für die Buchkritik in SWR2.