Ghettos sind für Gesellschaftswissenschaftler oft weiße Flecken auf der soziographischen Landkarte: undurchdringlich und gefährlich. Der Soziologe Sudhir Alladi Venkatesh allerdings gewann das Vertrauen einer Gang und hat seine jahrelangen Erfahrungen unter Gangstern nun aufgeschrieben. In seinem Buch „Underground Economy“ hat Venkatesh seine soziologische Methode des „Abhängens“ mit den „Black Kings“ erzählt.

Ort des Geschehens war die Robert-Taylor-Siedlung in Chicago, einst die bekannteste Sozialsiedlung der USA: In den 60er Jahren baute man hier 28 Betongebäude mit 16 Stockwerken. Afroamerikanische Familien sollten hier eine würdige Bleibe finden. Doch der Staat vernachlässigte die Siedlung in den 80er Jahren, Drogenkonsum und Schießereien nahmen Überhand. Es entstand ein Sumpf, in den Polizei, Krankenwagen oder Sozialarbeiter sich nicht mehr hineintrauten, erst recht nicht Soziologen. Damit blieben solche Ghettos ein schwarzes Loch für die amerikanische Soziologie.

(Geräusche von einer Schlägerei)

Eine Schlägerei in einer Chicagoer Sozialsiedlung. Sudhir Venkatesh hat das gefilmt. Und noch viel Drastischeres erlebt.

„Es gab Schießereien auf der Straße. Gangs schossen aus Häusern auf gegnerische Gangs. Leute wurden zusammengeschlagen, weil sie ihre Drogen nicht bezahlt hatten. Die meisten Leute um mich herum liefen weg. Ich blieb stehen. Ich war ja nicht als Bürger, sondern als Forscher da. Ich nutzte jede Gelegenheit, um mehr über die Menschen im Viertel zu erfahren. War das naiv? Ja. War das ein bisschen dumm? Wahrscheinlich ja.“

Alles begann, als Venkatesh als ehrgeiziger Soziologie-Doktorand mit einem Multiple-Choice-Fragebogen in den Süden von Chicago lief, direkt in eines der Hochhäuser der Robert-Taylor-Siedlung. Dort wollte er die Menschen geradezu rührend naiv befragen, wie es sei, arm und schwarz zu sein: sehr schlecht, eher schlecht, weder schlecht noch gut, eher gut, sehr gut. Statt zu antworten, hielten ihn die Mitglieder einer Gang erst einmal eine Nacht lang fest, weil die ihn für einen Spion einer rivalisierenden Bande hielt. Schließlich ließ ihn der Gangleader, kurz JT genannt, frei, und erlaubte ihm, regelmäßig ins Viertel zu kommen. Nur durch das ‚Abhängen‘ im Viertel, durchs Zuhören könne Venkatesh die Bewohner wirklich verstehen, lautete die Empfehlung.

„Dass ich mich überhaupt wiederholt dort aufhalten durfte, verdanke ich JT. Er nahm mich zu sich nach hause mit, schlief sogar mal für eine Woche auf seiner Couch. Auch bei anderen Familien blieb ich für mehrere Wochen. Es war insgesamt ein sehr persönlicher Kontakt.“

„JT“ war ein lokaler Boss der Drogengang „Black Kings“, die Kokain zu Crack aufkochte und im Block verkaufte. Dieser Mann also lud Venkatesh zum Essen ins Restaurant und bald sogar auf Familienfeiern ein, nahm ihn mit, wenn er seine Straßendealer kontrollierte und schon mal zur Strafe zusammenschlug. JT hatte sogar einen „Rechnungsprüfer“, der Venkatesh schließlich Aufzeichnungen über Ausgaben und Einnahmen der Gang überließ. Also Waffen, Munition, Autos auf der einen und Drogengewinne auf der anderen Seite. Venkatesh erhielt einen Überblick über die Struktur der Gang: Es war längst keine undisziplinierte Bande von schießwütigen Kleinganoven mehr, wie etwa in den Gangs der 80er Jahre.

„Die Gangs wollten wie amerikanische Unternehmen organisiert sein: Sie hatten Fußsoldaten mit Minimalgehalt, ein mittleres Management, einen Verwaltungsrat und einen Geschäftsführer, der am meisten verdiente. Die Organisationsstruktur der Gang war der von McDonald’s sehr ähnlich!“

Wer 3000 Portionen Crack pro Tag verkaufen möchte, kann das nur mit einer stadtviertelübergreifenden Korporation bewältigen. Und die wiederum kassierte als Schutz- und Ordnungsmacht überall ab. Venkatesh befragte alle: Die illegalen Untermieter in leerstehenden Wohnungen oder gar in Treppenhäusern, aber auch den Mechaniker, der in Schwarzarbeit Autos reparierte. Der findige Pastor wiederum vermietete seine Kirche tageweise für einen kleinen Obulus an die Gang, damit die dort ungestört strategische Sitzungen abhalten konnte. Ihre Drogengewinne steckte die Gang sogar wohltätig in die Kinderbetreuung oder in Basketballturniere.

„Wenn die Regierung für nichts sorgt, strukturiert die Gang das öffentliche Leben, schickt Leute zum Einkauf für ältere Mitbewohner oder beseitigt Müll. Der Gangboss weiß genau, warum er das tut: Die Wahrscheinlichkeit sinkt, dass Anwohner die Gang bei der Polizei anzeigen.“

Venkateshs Erlebnisse waren extrem, der Forschungsansatz der mehr oder weniger teilnehmenden Beobachtung, des Abtauchens in ein Milieu ist jedoch nicht völlig neu. Gerade die amerikanische Presse kennt hierfür Beispiele, etwa den Gonzo-Journalismus von Hunter S. Thompson, der schon in den Sechzigern ein Jahr lang mit der Motorradgang „Hell’s Angels“ zusammenlebte; erst kürzlich begab sich der Reporter Harmon Leon unter Haschischzüchter, Waffenhändler und fundamentalistische Christen. Der Preis ist eine gewisse Komplizenschaft: Strenggenommen hätte Venkatesh jedes geplante Gang-Verbrechen der Polizei melden müssen – selbst, wenn die nur, überfordert von der Ghetto-Gewalt, mit den Schultern zuckte.

„Als ich die Rechtslage begriff, sagte ich der Gang: Wenn ihr hier einen Mord plant, will ich davon nichts hören und verlasse den Raum. Ich versuchte, das Ausmaß an Verbrechen zu begrenzen, von dem ich erfuhr. Das klappte nicht immer, aber ich gab mein Bestes. Wir lesen ständig von soziologischen Forschungsergebnissen und vergessen, wie schwierig der Weg dahin war. Wenn noch nicht einmal die Polizei im Ghetto etwas ausrichten kann – welche Möglichkeiten sollte dann ein Forscher als Moralapostel haben ?“

Undercover-Reportagen allerdings machen zu oft bei Lebensgefühlen und Weltsichten Halt, während Venkatesh Wirtschaftskreisläufe herausarbeitet. Das alles könnte eine Soziologie der Umfragen, Telefoninterviews und Statistiken nie erkennen. Gerade die dominierte das Nachkriegsamerika. Venkatesh belebt ältere, verstehende Forschungstraditionen wieder. Diese Subjektivität wie auch die undurchsichtige Schattenwirtschaft produzieren dann aber ein letztes Problem: Streng nachprüfbar, streng verallgemeinerbar ist hier nichts. Vielleicht müssen die Erzählungen in Venkateshs Buch als Zeitzeugenbefragung im Sinne der oral history gelten; schließlich sind die Robert-Taylor-Homes mittlerweile abgerissen worden. Spannend, aufschlussreich und beeindruckend in der Forschungsleistung sind diese Erzählungen aber allemal!

Sudhir Venkatesh: „Underground Economy: Was Gangs und Unternehmen gemeinsam haben“. Erschienen bei Econ, Preis: 18 Euro.

Für die Resonanzen in WDR3.