Was für ein postsowjetischer Alptraum dieses sibirische Kaff mit dem Namen Asbestos II doch ist: Als verwitterter Gulag-Außenposten ohne Bedeutung, Arbeit oder Möglichkeiten von Freizeit. Man ernährt sich von backsteinartigem Schwarzbrot, Kondensmilch oder gleich von Wodka. Die junge Sascha Goldberg verliert hier hinter der Müllhalde ihre Unschuld. Als Jüdin hat sie es selbst nach dem Fall des atheistischen Regimes nicht einfach. Kein Wunder also, dass Asbestos II der Ausgangspunkt von Sascha Goldbergs Reise um die Welt sein wird – einer Flucht von zuhause, einer Suche nach einem besseren Leben und nach dem Vater, der längst nach Amerika verschwunden ist. Zunächst jedoch bietet nur die Poesie eine Zuflucht: Sascha denkt immer wieder an das Gedicht Petropolis, das dem Roman seinen Titel gab. Autorin Anya Ulinich:

„Ossip Mandelstams Gedicht ‚Petropolis‘ schildert einen deutschen Luftangriff auf St. Petersburg im Ersten Weltkrieg. Im Roman bedeutet es für verschiedene Figuren etwas Unterschiedliches. Für Sascha ist Asbestos II ihr Petropolis, eine Stadt, die zerstört wird. Für Saschas Mutter ist es ein Erkennungszeichen der Intelligenzija, der gebildeten Schicht.“

Der sich die einfältige Mutter ziemlich grundlos zurechnet. Erheiternd wirkt diese hysterische Abgrenzungssucht, eine logische Folge in einer Gesellschaft, in der alle gleich sein sollten. Immer wieder erstaunt der leichte Ton, mit dem Anya Ulinich hier die grauen russischen Neunziger Jahre porträtiert. Schließlich hat auch die Autorin dort einen Teil ihrer Kindheit erlebt.

“Meine Oma hatte noch diesen Intelligenzija-Tick. Als sie später nach New York kam, war sie fast schon blind. Aber sie ging ins Metropolitan Museum of Art, setzte sich hin und fragte: ‚Was hängt da? Aha, Renoir! Oh…!‘, weil man eben die hohe Kunst wertschätzen sollte…!”

Sascha wird aus ähnlichen Gründen früh von ihrer Mutter in die Zeichenschule gesteckt, eine Art Kunst-Dressur für Kinder. Anya Ulinich rechnet hier mit der eigens genossenen Kunsterziehung zum drögen Realismus ab. Ihr Roman dagegen strotzt vor Absurditäten, manchmal nahe an der Karikatur. Den bewundernswerten Blick für visuelle Details dabei hat die Autorin ganz offensichtlich von eben jener ungeliebten Kunsterziehung erhalten.

„Ich denke, man sieht Dinge, Formen und Schattierungen besser. Man kann alles, was man vor sich hat, aufs Papier bringen. Wenn ich schreibe, ist das genauso: Ich kann von etwas ohne Klischees erzählen!“

Sascha Goldberg schafft die Ausreise nach Amerika schließlich als Mailorder-Braut: Über eine Agentur lernt sie einen stumpfsinnigen Techniker aus Phoenix, Arizona kennen: Neal. Halbglatze. Cowboystiefel. Der freut sich, zuhause eine ergebene Putzhilfe und Bettgenossin zu besitzen. Hier wird der Roman zu einem erfrischenden Außenblick auf das Einwanderungsland per se, die USA, deren zweifelhaftes Mitleid der Immigrantin Anya Ulinich ebenfalls zuteil wurde – und sie zum Schreiben brachte.

“Die Stadt Phoenix ist kaum auszuhalten. Bei 55 Grad Celsius ist man komplett von den Klimaanlagen abhängig. Aber die Leute glauben, sie haben das beste Leben, ein Leben, das jeder anstreben sollte… Es gibt so eine Art Mustererzählung für Immigranten: Sie sind unsäglichem Elend entflohen, kommen an einen neuen Ort und sind dankbar, da zu sein.“

Diese Mustererzählung unterläuft Anya Ulinich und zeigt beispielsweise, wie auch hier nur der demütigende Ausverkauf der eigenen Seele nötig ist. Nach der Flucht vor Neal – Essen gegen Sex und Putzen – findet Sascha Unterschlupf bei einer Familie mit typisch amerikanischem Wohltätigkeitstick, Motto: Essen gegen die Rolle als Benefizmaskottchen, um den abendlichen Gästen Spenden für Exiljuden aus der Tasche zu ziehen. Bitter, sarkastisch ist das alles, ohne aber in ein politisches Pamphlet oder bloßen Ulk abzugleiten.

“Meinen schwarzen Humor führe ich auf die russische Literatur zurück, auf Bulgakov und Gogol vielleicht. Die russische Sprache ist einfach ein Teil von mir. Aber zum Englischen gibt es eine Distanz. Das ist großartig, das kreiert so einen analytischen Blick von außen. Wenn ich Englisch spreche, fühlt sich das an wie lügen…!”

Das bewahrt das Buch vor Kitsch, gerade auch, wenn Sascha ihren Vater wiederfindet oder wenn ihre Mutter im Sterben liegt. Da findet ein schwindelerregender, überdrehter, tragikomischer Bildungsroman sein Ende.

“Petropolis” von Anya Ulinich ist im Deutschen Taschenbuch Verlag erschienen, wurde von Pieke Biermann übersetzt, hat 420 Seiten und kostet 14 Euro 90.

Rezensiert für die „Buchkritik“ auf SWR2.