Mit „Der Schattenkönig“ gelingt Maaza Mengiste ein opulentes Werk, das den zu Unrecht verdrängten Krieg zwischen Italien und Äthiopien 1935-1936 und den äthiopischen Kämpferinnen zur Erinnerung verhilft. Auf allen Seiten werden Menschen zu Opfern und Tätern. Mengiste schildert das bedrückend, dann wieder in einem hohen Ton, über dessen Adäquatheit sich streiten lässt.
Der Italienisch-Äthiopische Krieg 1935-1936 ist ein zu Unrecht fast aus dem historischen Bewusstsein verschwundener Krieg – der letzte große koloniale Feldzug voller Leid und Kriegsverbrechen. Damals versuchte das faschistische Italien einige Jahrzehnte nach einer schmachvollen Niederlage im ersten Italienisch-Äthiopischen Krieg 1895/96, seinen Traum vom eigenen Großreich zu vervollkommnen.
Der Völkerbund, dessen Mitglied auch Äthiopien war, schwieg zum Angriffskrieg. Und die Bemühungen Äthiopiens, nach dem Zweiten Weltkrieg Italien wegen der zahlreichen Kriegsverbrechen zur Rechenschaft zu ziehen, verliefen im Sande.
Die Autorin Maaza Mengiste stammt selbst aus Äthiopien und lebt nach Stationen in Nigeria und Kenia in New York. Ihr Roman „Der Schattenkönig“ stellt den Krieg äußerst vielgestaltig dar und wurde auch deshalb für den Man Booker Prize 2020 nominiert. Und bei ihrer Recherche zum Buch erlebte Maaza Mengiste eine Überraschung, wie ich im Gespräch mit der Autorin erfuhr.
Es war ein äußerst asymmetrischer Krieg, als das faschistische Italien 1935 in Äthiopien einmarschierte. Maaza Mengiste schildert ihn in „Der Schattenkönig“ opulent, nuancenreich und detailgetreu.
Denn darin treffen italienische Einheiten mit modernsten Waffen auf äthiopische Krieger. Die Italiener haben Panzer und Flugzeuge, die Senfgas versprühen, die Äthiopier kämpfen bloß mit Jahrzehnte alten Gewehren.
In einem Punkt allerdings sind die Einheimischen im Roman den selbsternannten italienischen Zivilisatoren weit voraus: In ihren Reihen kämpfen zahlreiche Frauen, erzählt Maaza Mengiste, die sich dessen zuerst gar nicht bewusst war. Sie wurde 1971 im äthiopischen Addis Abeba geboren und lebt heute in den USA. Maaza Mengiste erzählt:
„Erst, als ich fast mit dem Roman fertig war, erfuhr ich, dass Frauen in diesem Krieg gekämpft hatten – auch meine eigene Urgroßmutter. Ich war schockiert! Ich fragte meine Mutter: ‚Warum hast Du mir das nicht früher erzählt?‘ Sie sagte: ‚Du hast nie danach gefragt.‘ Diese Geschichten sind da, aber man hält sie nicht für Geschichten, die das Wesen einer Nation ausmachen. Sie gelten nur als Geschichten, die sich Frauen in der Küche und im Schlafzimmer erzählen.“
Also begann Maaza Mengiste nochmal von vorne und rückte zwei Frauenfiguren ins Zentrum, die vorher nur Nebenrollen hatten. Sie waren die Köchinnen der männlichen Krieger: Hirut, einst als armes Waisenkind aufgenommen im Hause des äthiopischen Offiziers Kidane, einem Untergebenen von Kaiser Haile Selassie. Dort dient sie Kidanes Frau Aster. Ungeachtet ihrer unterschiedlichen gesellschaftlichen Positionen werden die Frauen bald Seite an Seite im Krieg kämpfen. Dabei arbeitet Mengiste vor allem die schmerzliche Ambivalenz heraus, mit der die Frauen ständig leben. Progressivität? Pustekuchen! – mancher Mann lehnt eine Kriegerin im Militärlager deutlich ab, so beschreibt es Maaza Mengiste:
„Dort ist sie plötzlich wieder eine Frau. Soll eine Frau im Lager kochen und Wasser holen? Also allerlei männliche Bedürfnisse erfüllen, auch sexuelle? Im Militärlager wurden die Kriegerinnen wieder zu bloßen Frauen. Das war für die männlichen Mitstreiter erträglicher. Die Männer verstanden es so: Die Frau mag auf dem Schlachtfeld kämpfen, aber hier bin ich immer noch der Mann und kann sie zu all diesen anderen Sachen zwingen.“
Darin liegt die große Stärke von Maaza Mengistes Roman: Er verklärt nicht die schwarzen Opfer des italofaschistischen Angriffs, sondern zeichnet auch die äthiopischen Figuren durchaus widersprüchlich: Aster beispielsweise ist gegenüber Hirut zuhause eine gnadenlose Herrin, wurde von Kidane aber selbst als Kindsbraut vergewaltigt.
Fifi, eine junge Äthiopierin, kann sich nur als Edel-Prostituierte für die Italiener durchschlagen. Und manche Äthiopier sind „Ascari“ – einheimische Soldaten im Dienste Italiens. Kaiser Haile Selassie ist mutlos nach England geflohen. Immer mehr Äthiopier aber wollen ihn vor den Schlachten hoch zu Ross gesehen haben. Doch das ist nur ein einfacher Mann aus dem Volk, ein Double des Kaisers in prachtvollen Gewändern, eben der titelgebende „Schattenkönig“. Diese Farce ist eine Idee von Hirut, die so den Widerstand gegen die faschistischen Aggressoren befeuern kann, so kaputt der Schattenkönig auch aussehen mag, Zitat:
„Er ist ein kampflädiertes Bild, das zum Leben erweckt wurde, zerknittert und leicht vergilbt, doch von starken Knochen getragen, bewacht von zwei Soldatinnen namens Aster und Hirut, die ihn an beiden Seiten flankieren, als Vorbild für sämtliche Frauen Äthiopiens.“
In Passagen mit wechselnder Perspektive blickt Mengiste so durch die Augen einer Handvoll Äthiopier und Italiener und zeichnet den Kriegsverlauf der Jahre 1935/36 nach. Auf die Spitze getrieben hat sie ihre Ästhetik der Ambivalenz in Ettore, einem Fotografen der italienischen Armee: Er ist Jude und gerät mit dem zunehmenden Antisemitismus seines faschistischen Landes in Konflikt. Maaza Mengiste:
„1937 wurde in allen italienischen Kolonien die Rassentrennung per Gesetz verordnet. Ein Jahr später dann kamen die antisemitischen Gesetze hinzu. Die jüdischen Soldaten also setzten in einem Jahr rassistische Gesetze durch, und im nächsten Jahr waren sie dann selbst der Feind. Wie ist das, wenn man erst ein Armeesoldat ist und im nächsten Moment der Feind genau dieser Armee?“
Das mag hier arg konstruiert klingen. Doch legt Mengiste die Schichten der Figur von Ettore, wie die jeder in diesem Roman, nach und nach kunstvoll frei. So erfahren wir von Ettores Vater, der vor Pogromen aus Odessa floh, und schließlich wird Ettore in den Briefen von seinen Eltern in Italien lesen, dass das vermeintliche Heimatland immer offener antisemitisch wird.
An Ettores Biographie wird damit auch deutlich: Die Gewaltgeschichte des Zweiten Weltkriegs hat ihren Vorläufer im Kolonialismus. Der Kolonialismus wiederum erweist sich als System verschiedener Gewaltformen, die Maaza Mengiste allesamt schildert: Ettore etwa fotografiert Hirut und Aster als diese gefangen werden. Wie wilde Tiere, wie Trophäen werden sie präsentiert – und die Foto-Abzüge werden zu Souvenirs bei den Soldaten.
Später werden Hirut und Aster fliehen– anders als viele andere äthiopische Gefangene, die die Italiener gegen jede internationale Kriegskonvention willkürlich hängen, erschießen oder von einer Bergkante in den Tod stoßen. Maaza Mengiste schildert das alles minutiös, was die Lektüre bisweilen schwer erträglich macht. Infolgedessen wechselt die Erzählstimme oft in den hohen, lyrischen Ton eines antiken Chores – das klingt ungewohnt!
„Da fällt Fisseha, der letzte Sohn Samuels. Da stolpert Girmay, das einzige Kind von Mulu. Da sinkt Habte auf die Knie, Lunge und Herz von einem Speer durchbohrt. Hört, wie der Wind von Speeren und geschleuderten Steinen und heiseren Stimmen und gequälten Schreien vibriert.“
Maaza Mengiste kommentiert diese Passagen so:
„Ich wollte etwas im Stile der großen griechischen Epen schreiben, wie die Ilias. Ich wollte in glorreichen Worten von den Ausgelöschten und Vergessenen sprechen. Ich wollte sehen, ob ich die Sprache dabei ausreichend schön gestalten könnte, so dass es gelingt, die geschilderte Gewalt zu ertragen. Ich blieb dabei nah an meinen Figuren und wollte davon sprechen, wie sie sich fühlten, anstatt sie als bloße Objekte von Gewalt darzustellen. So konnte ich ihr Menschsein bewahren.“
Ein beeindruckendes, komplexes Panorama bei gleichzeitiger Tiefenschärfe. Wenn nach Jahrzehnten Hirut und Ettore in der Rahmenhandlung noch einmal aufeinandertreffen, zeigt sich, wie unglaublich schwierig selbst dann jede Vergebung sein wird bei diesen Zweien, die sich als Einzelne nie bekämpft hätten. Es wundert nicht, dass Mengiste für ein Erinnern dieses komplexen Krieges 600 Seiten braucht. Aber die sind nötig. Inhaltlich lohnen sie – auch wenn der hohe Ton manchem zuweilen zu pathetisch erscheinen mag.
Maaza Mengiste: „Der Schattenkönig“ von Maaza Mengiste. Das Buch wurde aus dem Englischen übersetzt von Brigitte Jakobeit und Patricia Klobusiczky, hat 576 Seiten und kostet 25 Euro.
Der Beitrag ist für begrenzte Zeit nachhörbar auf den Seiten des SWR2 Lesenswert Magazin.