Hamed Abdel-Samad plädiert für offene Debatten und für die Meinungsfreiheit als Teil der deutschen Kultur. Glücklicherweise ist der 1972 in Ägypten geborene Autor selbst ein lebendiger Teil der deutschen Debattenkultur.
Auf Panels oder in Talkshows nimmt der Politikwissenschaftler gerne Stellung bei Themen wie Integration, Religion und Demokratie. Einem größeren Publikum ist der einstige gläubige Muslim vor allem durch seine islamkritischen Bücher bekannt geworden: „Mein Abschied vom Himmel“, „Der Untergang der islamischen Welt“, „Der islamische Faschismus“ oder „Mohamed – eine Abrechnung“ zum Beispiel. Ein meinungsfreudiger, streitlustiger Autor, der sich mittlerweile besorgt um die Meinungsfreiheit und die deutsche Identität zeigt.
Hamed Abdel-Samad ist ein seltener Glücksfall für unser Land. Ein nachdenklicher, unbestechlicher, kritischer, debattenfreudiger Deutscher, der gerade wegen seiner ägyptischen Wurzeln, wegen eines Blicks, der von außen und von innen auf uns schauen kann, die Verhältnisse hierzulande nüchtern benennen kann.
„Aus Liebe zu Deutschland“, so der Titel, fühlt sich der Autor zu diesem „Warnruf“ verpflichtet, weil er die Meinungsfreiheit in Gefahr sieht. Die These: Laut Abdel-Samad bezieht sich Deutschland ständig auf seinen dunkelsten Fleck, den Holocaust, zurück, kann damit aber Neonazis, linke Brandstifter oder islamistische Extremisten auch nicht verhindern. Kurzerhand vergleicht er das schuldbeladene Deutschland mit seiner eigenen Biographie: Er hat sich von der Höllenfurcht des Islam losgesagt und in den westlichen Werten eine entspannte, freie Identität gefunden. Ähnliches empfiehlt er unserem Lande: jenseits der „Identitätsneurose“ eine positive, starke, verantwortungsvolle Identität aufzubauen.
Eine gewagte, kontroverse Theorie! Abdel-Samad unterfüttert sie durch Gespräche mit Gelehrten wie Dietrich Borchmeyer und Hans-Ulrich Wehler und ergründet die problematischen Tiefenschichten der deutschen Seele: Die überspannte Selbstüberschätzung findet er im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation begründet, den Rückzug ins Innere im 30jährigen Krieg, der maßgeblich von äußeren Mächten auf deutschen Boden geführt wurde. Fortan, so eine unter vielen Erkenntnissen, habe der Deutsche Sicherheit und Ordnung vor Revolution und Freiheit gesetzt und eine Untertanenmentalität kultiviert.
Und die lähme die Öffentlichkeit in Gestalt von Moral- und Schuld-Untertanen in Politik und Medien, die eine offene Debatte durch ihr Moralisieren verhinderten; Journalisten, die eher Aktivisten und Regierungssprecher scheinen; Opfer-Untertanen, also Funktionäre mit Migrationshintergrund, die den Schuldkomplex der Deutschen schamlos ausnutzten; rechte Untertanen, die nach einem starken Staat wie früher schrien.
Das ist in der deutschen Debattenkultur selten wohltuend: Abdel-Samad teilt nach allen Seiten hin aus. Grüne, die Werte-Union, die Sozialistische Internationale, alte Männer, junge Schulklassen, religionsvernarrte Migranten, rechtsnationale Biodeutsche – allen hält er ihre Einseitigkeit und Herdenmenschelei vor. Besonders enttäuscht zeigt er sich von der Bigotterie des linksliberalen Bürgertums, das im Namen der Toleranz die Allianz mit rechtsreligiösen Migrantenverbänden wie der Ditib suche.
Im Schweinsgalopp besucht Hamed Abdel-Samad nebenbei schicksalshafte Orte der deutschen Demokratie: das Bamberger Rathaus, das Hambacher Schloss, den Wormser Reichstag. Es geht um Martin Luther, Friedrich Schiller, Thomas Mann und andere prägende Geistesgrößen. Mit der Berliner SPD-Politikerin Sawsan Chebli streitet er über Integration, mit Sascha Lobo über die mangelhafte Digitalisierung Deutschlands.
Vielleicht liegt das Fragmentarische dieses Buches am Sujet, an Deutschland, das auch Abdel-Samad nur sehr allgemein und widersprüchlich fassen kann: als Heimat von Goethe und Goebbels, Karl Marx und Carl Benz, ein Land mit Döner, Spaghetti, Jazz und Bauchtanz.
Hamed Abdel-Samads Lösungsansätze für offenere Debatten erscheinen schlussendlich nicht unbedingt neu, sind aber zuweilen stringenter als manch weichgekochte offizielle Politikerverlautbarung: Man brauche eine starke gesellschaftliche Mitte ohne Untertanenmentalität, ohne Pseudotoleranz, ohne lautschreierische Political Correctness. Konkret solle man mit AfD-Wählern reden, anstatt sie zu verteufeln und Immigranten nicht rechtsreligiösen, gut organisierten Verbänden wie der türkischen Ditib überlassen. Statt Multikulti brauche es eine Überidentität für alle Deutsche, eine Willkommenskultur mit Leitkultur, die Abdel-Samad allerdings nur vage umreißt. Vor allem gelte es, die Freiheit und die Grundrechte ernst zu nehmen, konkret: Gleichberechtigung für Frauen in allen religiösen Milieus einfordern; das Recht der körperlichen Unversehrtheit von Kindern nicht durch Beschneidung verletzen; das Kopftuch erlauben, aber den Kopftuchzwang bei Mädchen ächten…
So kreist das Buch fortwährend mit einem Blick zurück im Zorn um Persönliches und Allgemeines, ergründet, denkt weiter, echauffiert sich. Ein ziemlicher Kolumnenstrudel bisweilen, der aber eine freie Luft atmet und angenehm unideologisch daherkommt.
Hamed Abdel-Samad: „Aus Liebe zu Deutschland. Ein Warnruf.“ ist bei dtv erschienen. 224 Seiten kosten 20 Euro.
Rezensiert für die Lesenswert Kritik in SWR2.