Der Chef in einem kanadischen Reservat muss sich Korruptionsvorwürfen stellen: Louis-Karl Picard-Sioui erzählt das in einem Mix aus autochthoner und westlicher Erzählkunst, mal fantastisch, mal sozialkritisch, mal gewitzt, in der Rahmenhandlung allerdings auch voraussehbar einfach.

Der Bücherherbst bringt in diesem Jahr wegen des Buchmessenschwerpunkts viele kanadische Titel auf den deutschen Markt. Ein Teil davon sind Bücher, die ganz in einer westlich-angelsächsischen Tradition stehen. Aber oft finden sich auch Texte aus der Tradition der Ureinwohner. Zum Beispiel der von Louis-Karl Picard-Sioui, 1976 geboren und Autor, Poet, Performer und Dramatiker, außerdem Kulturmanager mit einem Hintergrund aus einer First Nation. Mit „Der große Absturz“ legt der Secession-Verlag nun das erste Mal einen Roman auf Deutsch von Picard-Sioui vor.

Wenn es um die Ureinwohner Nordamerikas geht, so schwirren immer noch zu viele Klischees in unseren Breiten herum. Diese liegen irgendwo zwischen Winnetou-Romantik, Traumfänger-Ethnokitsch oder ewigem Abo auf die moralische Siegerposition gegenüber Weißen im identitätspolitisch aufgeheizten Debatten-Klima. Da tut ein kleines Büchlein wie „Stories aus Kitchike: Der große Absturz“ von Louis-Karl Picard-Sioui gut, denn es bringt die nötige Binnendifferenzierung in unsere Wahrnehmung– mit einem wuseligen Figurenpanoptikum aus einem Reservat im frankokanadischen Québec.

Zugegeben, auch hier gibt es Powwows mit Fuchsschießen und Balztanz von ansehnlichen Kriegertypen – allerdings gesponsort vom Lebensmittelkonzern „Lénest“. Saufköpfe mit Total-Blackout nach dem One-Night-Stand und zartbesaitete Gitarrenvirtuosen geben sich die Ehre. Ureinwohner, die sich im feinen Anzug in Heavy-Metal-Kneipen wagen, First-Nation-Frauen in aufreizenden Miniröcken, die zuhause Poster von Sitting Bull und Justin Timberlake an den Wänden haben…

Und zu guter Letzt: Chef „Saint-Ours“: Er steckt sich als Oberhaupt des Reservats Gelder in die Tasche, die eigentlich für Gemeinschaftsprojekte gedacht sind; kein Einzelfall, sein Vorgänger aus einem rivalisierenden Clan hat das schon genauso gemacht. Chef Saint-Ours‘ Ringen um den Machterhalt bildet die ziemlich lose Rahmenhandlung um mehrere ganz unterschiedliche Kapitel, die aus der Perspektive verschiedener Figuren erzählt werden. Diese Kapitel kann man auch unabhängig lesen, als „Stories“, wie es der Titel andeutet. Wer eine klassische Heldenreise oder abendländische Romanarchitektur erwartet, sollte also kurz einmal seine westliche Prägung hinterfragen!

Hier nämlich fährt Louis-Karl Picard-Sioui eine skurrile Mixtur aus autochthoner Erzähltradition und westlicher Moderne auf: Da taucht beispielsweise im Wohnzimmer eines First-Nation-Mannes plötzlich ein schwarzes Loch auf. Anderswo ignoriert eine Frau ihren tiefen Drang, dem Ruf der Wildgänse zu folgen und von einem Ort zum nächsten zu ziehen – und bleibt bei ihrem sesshaften Mann im Reservat, bis sie eines Tages urplötzlich Jahrzehnte gealtert scheint.

Dann wieder feiert der Autor ein freches selbstreferentielles Fest, wenn einem First-Nation-Musiker eine Figur aus einem Roman begegnet, den er als Kind gelesen hat – augenzwinkenderweise Picard-Siouis Debutwerk! Und die Figuren räsonieren, wie sich Realität und Fiktion überhaupt so verschränken konnten – irgendwo zwischen indianischem Mythos und Multiversum.

Kafkaeske Motive, ein hip-hop-artiges Vorwort… Man merkt schnell, dass Picard-Sioui mit vielerlei kulturellen Wassern gewaschen scheint, er ist nicht nur Fantasy-Fan, sondern auch Performance-Künstler, Poet und examinierter Ethnologe.

Auf den ersten Blick mutet Manches sogar urkomisch an: So heißt eine Figur „Jean-Paul Paul Jean-Pierre“, man nennt ihn auch scherzhaft den „Mann mit den drei bis fünf Vornamen“. Das entpuppt sich allerdings als bittere Satire, wenn man erfährt, dass die katholischen Missionare die Kinder der First Nations oft ihren Eltern entrissen und mit französischen Doppelvornamen ausstatteten.

Nachlesen lässt sich das im kenntnisreichen Nachwort der Übersetzer Sonja Finck und Frank Heibert, die ausführen, wie sie im Begriffsgestrüpp zwischen „Indianern, Indios, Indigenen, Ureinwohnern, First Nations“ und so weiter navigiert haben: Je nach Figur, Perspektive und Untertönen haben die beiden bravourös die treffenden Begriffe ausgewählt.

Denn arglose Weiße und hämische Rassisten treten ebenso auf wie selbsternannte „Indianer“, die eben diese Fremdzuschreibung verinnerlicht haben. Picard-Sioui verschont übrigens auch den weißen Mann nicht: „Frenchie“, „Frog“, „Milchbrötchen“ nennen die Nichtweißen diese meist leicht von sich eingenommene Spezies, einmal sogar: „bescheuertes kleines Weißbrot mit Napoleonkomplex“.

Ja, die Gemüter hier sind oft erhitzt, und Chef Saint-Ours steuert einem dann doch recht voraussehbaren Ende zu – in einem Mini-Roman, der vor allem durch seine fantastischen Seitenpfade einnimmt.

Louis-Karl Picard-Sioui: Stories aus Kitchike: Der große Absturz. Übersetzt von Sonja Finck und Frank Heibert. Erschienen bei Secession. 184 Seiten kosten 20 Euro.

Rezensiert für die Lesenswert Kritik in SWR2.