Wie kann man den Schmerz im Leben ertragen, ohne sich selbst zu belügen und wegzuschauen? Wie lassen sich die Illusionen anderer Menschen ertragen, ohne vorschnell zu richten? In ihrem neuen Roman „Der Gott der Alpträume“ zeigt Paula Fox: Genau hinsehen ist mehr als die Fähigkeit des Auges – es ist der verfeinerte Blick für jene Mechanismen, die Tabuisiertes verschwinden lassen sollen. Konsequent und souverän erzählt Fox ihren Entwicklungsroman als Geschichte einer sich klärenden Sicht.
Die Ich-Erzählerin, die junge Helen, lebt im Jahre 1941 zusammen mit ihrer Mutter in einer Hütte in den Wäldern des Staats New York. Der Vater hat die Familie vor 13 Jahren verlassen, aber Helens Mutter glaubt immer noch an seine Rückkehr. Als die Nachricht von seinem Tod eintrifft, merkt Helen erst, wie körperlich abstoßend sie den verkrampften Optimismus ihrer Mutter schon immer gefunden hat. Sie ist gerne bereit, nach New Orleans zu fahren, um dort Tante Lulu zu finden, die zur Aufheiterung der Mutter nach hause in die Landhütte kommen soll.
„Die Welt ist weiter, als sie es sich jemals vorgestellt hat. Helen ist im Grunde blind. Sie geht nicht nach New Orleans, weil sie wüsste, dass sie blind ist, sondern weil ich weiß, dass sie blind ist. Ich habe sie an einen der interessantesten Orte im Land gesteckt, damit sie ein paar Dinge lernt! Und das tut sie: Sie bekommt zum ersten Mal in ihrem Leben einen Sinn für andere Menschen.“
Schwarze, Ehebrecher, Gauner, Homosexuelle, Schriftsteller, nicht zuletzt ihre exzentrische Tante, eine trunksüchtige Bohemienne, lernt Helen in ihrem neuen Bekanntenkreis in der Großstadt kennen. Fox gelingt der Spagat, den Leser durch Helens naive Augen blicken zu lassen, die Komplexität ihrer Umwelt aber dennoch einzufangen. Die Übersetzerin Susanne Röckel hat Helens unschuldiges Staunen und ihre manchmal ungläubigen, ungelenken Sätze im deutschen Text beeindruckend bewahrt. So beschreibt Helen ihre Vermieterin in New Orleans:
„Alles an ihr kam mir einzigartig vor, die rasche, geschmeidige Art ihrer Bewegungen und wie ihre Kleider und Haare so scheinbar zufällig und doch beredt von einer Eigenart ihres Charakters zeugten, die ich nicht benennen konnte, die aber in bestimmten Worten wie Shenandoah oder Alabama mitschwangen. […] Als ich daran dachte, hatte ich unversehens das Wort schön im Kopf. Ich starrte sie an. Sie lächelte und erlaubte mir damit, sie anzusehen. Vielleicht war es Zeit, sich abzuwenden.“
Fox selbst hat früher einige Zeit in New Orleans gelebt und die seltsame Mischung aus Schwüle und Prüderie erlebt. Die Figuren im Buch haben zum Teil Vorbilder aus dieser Zeit. Wenngleich auch die gegenseitige Abhängigkeit von Mutter und Tochter an das Lebensthema von Fox denken lässt – so autobiographisch wie zum Beispiel der Roman „In fremden Kleidern“ ist „Der Gott der Alpträume“ nicht. Sie habe viel darin erfunden, sagt Fox, obwohl natürlich jeder Schriftsteller, selbst ein Science-Fiction-Autor, letztlich aus seinem eigenen Leben schöpfen müsse.
„Ich tue, was ich kann. Man ist an sich selbst gekettet. Alles, was man erlebt, macht hier die Grenze aus. Das ist die Weite und zugleich die Enge des Schreibens. Bei den meisten meiner Bücher ist die Geschichte irgendwo in mir, wenn ich mit dem Schreiben beginne. Es ist wie ein Entwinden, wie das Häuten einer Zwiebel. Ich finde etwas über mich selbst heraus. Als ich dieses Buch zu Ende geschrieben hatte, wusste ich, dass es im Leben Schönes und Dunkles gibt.“
Hässlich ist die allgegenwärtige – zugleich sichtbare und unsichtbare – Rassentrennung in den Südstaaten der damaligen Zeit. Sichtbar, weil es verschiedene Trinkbrunnen für Weiße und Schwarze gibt, weil Schwarze in bestimmten Geschäften nicht einkaufen; unsichtbar scheint den Menschen der Widerspruch, dass sie trotz Unabhängigkeitserklärung und Menschenrechten Schwarze nur als Bürger zweiter Klasse wahrnehmen. Auch Helen muss diese historischen Sehgewohnheiten erst abwerfen.
„Eine bestimmte Form von Rassismus ist aus der Rechtfertigung der Sklaverei erwachsen. Wir mussten einfach denken, dass Schwarze weniger wert waren als Weiße. Sie waren doch Sklaven, sie wurden gefangen und hierher gebracht. Wir mussten sie als minderwertige Leute ansehen. Thomas Jefferson hielt damals Sklaven. Aber das sah er nicht. Die Unabhängigkeitserklärung hat nichts mit der Zeit damals zu tun. Es war eher ein wunschfroher Blick in die Zukunft.“
Werden weltpolitische Ereignisse erwähnt, so dienen sie vorrangig dazu, die handelnden Figuren zu charakterisieren: Als Bekannte einen Klassiker der französischen Literatur, Benjamin Constants „Adolphe“ lesen, glaubt die ungebildete Helen, es gehe um Hitler. Der Zweite Weltkrieg indes tangiert kaum jemanden. Einzig der junge Len wartet halb ängstlich, halb gelangweilt auf seine Einberufung. Anders als durch größere Zusammenhänge oder die Zeitgeschichte ließe sich die Figurenzeichnung auch gar nicht bewerkstelligen, sagt Fox.
„Wie kann man sich als Schriftstellerin sonst aushelfen? Alles scheint mit Bedeutung aufgeladen, geradezu elektrisch. Jedermann ist ein umherlaufendes Bündel von Meinungen, ohne dass er das notwendigerweise selbst weiß. Wenn man sorgsam und ehrlich über eine Person schreibt, dann schreibt man über die ganze Welt.“
Die Schattenseiten der angelsächsische Prüderie demonstriert Fox am Schriftsteller Gerald: Er nämlich dichtet über den einfachen Menschenschlag der Region. Dafür rächen sich drei Nachbarn, indem sie ihm eines Nachts einen Gartenschlauch in den Hintern stecken. Gerald erleidet einen Herzinfarkt, zeigt seine Bekannten trotzdem nicht an.
Eine Erklärung für den Ausbruch der Gewalt liefert der heimliche Homosexuelle Claude, als Randständiger besonders klarsichtig: Geralds Gedichte haben die bodenständigen Einheimischen ihrer Unmittelbarkeit beraubt, die fremde Sicht hat sie in die Öffentlichkeit gezerrt. Die Misshandlung bringt das neurotische Grundproblem der Angelsachsen auf den Punkt.
„Ich glaube, sie haben sich nie an die Tatsache gewöhnt, dass es Öffnungen im menschlichen Körper gibt. Das erklärt vielleicht, warum sie so gern Massaker und Metzeleien anrichten, ohne sich die Mühe zu machen, ihren Glauben als Entschuldigung ins Feld zu führen. Obwohl sie auch aus diesen Gründen gemordet haben, wie der Rest der Welt. Mediterrane Völker sind anders.“
„Das ist mir aufgefallen. Ich hab’s einfach niedergeschrieben. Dieses Land ist sehr prüde, diese schreckliche Prüderie der Evangelikalen, die von den Homosexuellen mit einem gewissen Horror in der Stimme sprechen – dieses Maß an Prüderie ist absolut skandalös. Religion bemäntelt die menschliche Gewalt. Wir geben dem, was wir tun, eine religiöse Tarnung. Wir sind halbentwickelte Kreaturen. Es ist einfach, gewalttätig zu werden. Wir haben eine angeborene Furcht vor dem Fremden. Das lebt in vielen unterschiedlichen Formen fort, so lang wir nicht Urteilskraft und Erfahrung besitzen.cIch denke, wir alle erleben diese schreckliche unterschwellige Gewalt. Wir sehen sie aber nicht. Unsere Sicht lässt sie unter die Oberfläche verschwinden. Sie ist immer da und sie ist bereit, jederzeit als Flut hereinzubrechen. Wir alle leben am Abgrund.“
Solche Analysen hält Fox noch heute für gültig und wichtig, hat sie allerdings äußerst sparsam eingefügt – eine zu klare Sicht auf die Figuren würde diese allzu durchschaubar machen. Stattdessen zeichnet Fox widersprüchliche Charaktere mit Tiefe:
Der sonst scharfsinnige Claude beispielsweise bedient sich eines archaischen Angst-Abwehrrituals: Jeden Abend trinkt er ein Glas zu Ehren des Gottes der Alpträume, damit die Alpträume nicht in die Wirklichkeit übergreifen, also seine Homosexualität nicht ans Tageslicht dringt. Claude wird brutal umgebracht. Das „Trankopfer“ hat nur der Verdrängung gedient, wirklich geholfen hat es nicht. Auch, wenn der Leser durch die Augen der schockierten Helen blickt – erzählt ist das alles sehr nüchtern.
„Ich habe eine Distanz, einen Sinn für einen gewissen Abstand, den man als Schriftsteller einfach bekommt. Wenn ich sagte: Die Figur ist böse, dann würden mich die Leser beschuldigen, eine Position zu beziehen. Selbstgerechtigkeit möchte ich nicht – Urteilsfähigkeit ist nötig, denn das ist ein Teil von Weisheit und Alter. Ich versuche, die Wahrheit zu sagen. Vor etwa 20 Jahren lag ich auf meinem Bett und redigierte eines meiner Manuskripte. Plötzlich dachte ich: Jeder bestimmte und unbestimmte Artikel in meinen Texten muss wahrhaftig sein, sonst betrüge ich.“
„Wahrhaftig“ ist auch die Konstruktion des Romans: Dem Leser mögen die Szenen zunächst geradezu aneinandergereiht und ohne Spannungsbogen erscheinen, und Helens Entwicklung ist nur leise spürbar. Das spiegele den Schreibprozess wider, sagt Fox: Jeden Roman füge sie wie einen Quilt aus vielen Einzelstücken zusammen. Diese epische Verfahren erreicht hier seinen Höhepunkt: Die einzelnen Szenen wirken wie aus dem Gedächtnis erzählt, ohne eine allzu klare Richtung, die das später immer klügere Bewusstsein in jedes Erinnern legt.
Umso intensiver erlebt der Leser am Ende den größten Kunstgriff des Romans, eine überraschende Desillusionierung der Hauptfigur ein Vierteljahrhundert später.
„Es gibt mehr als zwei Seiten. Alles hat mindestens 500 Seiten. Im Buch kommt ein Verrat vor, zumindest das, was wir dafür halten. Wir alle benutzen uns gewissermaßen. Aber die Figuren im Buch sorgen sich auch umeinander. Und es gibt etwas, das stärker ist, als der Schmerz, den man erfährt, wenn man Dinge entdeckt, die man vorher nicht wusste. Alle Lehren im Leben haben ihren Preis.“
Helen muss ihr ganzes Leben völlig neu interpretieren – und der Leser muss das ebenso tun. Erst danach hat Helen wirklich gelernt, aufrichtig zu sehen und gleichzeitig ihre hilflose Wut über die frühere Naivität zu erdulden. Einen Entwicklungsroman konsequent aus der sich klärenden Sicht der Hauptfigur zu erzählen – das ist Fox meisterhaft gelungen.