Sie ist wieder da: Die Geschichtsschreibung der großen Zusammenhänge. Hatte sich die Regional- und Lokalgeschichte französischer Prägung in den beiden letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts einflussreich den Lebensbedingungen Einzelner zugewandt, geht es der Globalgeschichte um Zusammenhänge großen räumlichen und zeitlichen Ausmaßes. Aus dem Nichts kommt diese Entwicklung keineswegs: Schon seit den Achtziger Jahren hat sich in den USA das schnell wachsende Fach world history etabliert, im angelsächsischen Raum lässt sich auf die Erkenntnisse der Imperialgeschichte zurückgreifen.

Die außerordentliche Leistung des Sammelbandes wie des historischen Ansatzes überhaupt liegt darin, mit den selbstverliebten, ja verblendeten Erzählungen der europäischen Geschichtsschreibung gründlich aufzuräumen: Mit der eurozentrischen Erzählung und der Erzählung von der Geschichte als Einbahnstraße in Richtung Wohlstand und Aufklärung.

Das erfordert zunächst eine methodische Beschränkung, schreiben die Herausgeber Sebastian Conrad und Andreas Eckert:

„Globalgeschichtliche Ansätze nehmen nicht die Totalität weltgeschichtlicher Vergangenheiten in den Blick, sondern konzentrieren sich auf die Verflechtungsgeschichte der modernen Epoche.[…]. Globalgeschichtliche Studien nehmen typischerweise nicht die ganze Welt in den Blick.“

Die meisten Autoren untermauern ihre Thesen mit anschaulichen Beispielen, allen voran Christopher Bayly. Er relativiert die Neuartigkeit der heutigen Globalisierung, indem er ihre Vorläufer beschreibt: Beispielsweise archaische Formen mit reitenden Kriegerhorden oder dem Karawanenhandel bis ins 19. Jahrhundert hinein, eine Proto-Globalisierung mit Kapitalgesellschaften, Werbung und Aktien ab dem 18. Jahrhundert. Kenntnisreich verbindet Bayly, genauso wie andere Autoren im Band, hier Fakten aus der Kultur, der Justiz, der Religion und vor allem der Wirtschaft. Dabei kommen gleich mehrere Autoren zu dem überraschenden Schluss,

„…dass die große Expansionsperiode des internationalen Handels und der Investitionen […] die Jahrzehnte vor 1913 waren, worauf dann ein drastischer Rückgang wirtschaftlicher Integration folgte. Trotz des erheblichen Wachstums des internationalen Handels in den letzten Jahrzehnten hat er gemessen am Prozentanteil am weltweiten Bruttoinlandsprodukt erst knapp wieder das Niveau der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg erreicht.“

Die Globalisierung, so zeigt sich, ist ein fragmentierter Prozess. Es gibt in ihm Phasen des Rückzugs und der Stagnation. Durch die angedichtete Teleologie und Durchdringungskraft will sich der Abendländer nur ein weiteres Mal einreden, er könne den Lauf einer rationalen Geschichte berechnen und kontrollieren.

Damit wiederholt sich gewissermaßen eine frühere Desillusionierung des Westens, die des großen Modernisierungsversprechens: Im vergangenen Jahrhundert sollte der technische Fortschritt den gesellschaftlichen befördern. Aufklärung und Demokratisierung sollten sich in den Entwicklungsstaaten nach dem Muster der westlichen Hemisphäre wiederholen. Stattdessen entstehen multiple Modernen, in denen verschiedene Gesellschaften ihre kulturell eingebetteten Utopien entwickeln, ob nun die islamische Revolution im Iran oder eine konfuzianische Erneuerung in Asien, und das alles gerade wegen der abendländischen Hegemonie: Als Antwort auf sie.

Von einer alles integrierenden Globalisierung lässt sich also kaum sprechen, weder heute, noch zu Zeiten des Kolonialismus, der schon damals bestehende Fernhandelsbeziehungen zerstörte, meint Fredric Cooper mit Blick auf Afrika.

„Es wäre eher zutreffend, die Kolonisierung als Entglobalisierung denn als Globalisierung zu bezeichnen. […] Die Politik des IWF […] umfasst eine erzwungene Senkung der Barrieren für Kapitalströme, die Reduzierung der Zollschranken und die Ausrichtung der Währung am Weltmarkt. Was aber kam dabei heraus? In Wirklichkeit war Afrikas Beitrag zum Welthandel und seine Aufnahme von Investitionsmitteln in den Tagen der nationalen Wirtschaftspolitik umfangreicher als in den Tagen der wirtschaftlichen Öffnung.“

Im Verzicht auf das Totale bearbeitet die Globalgeschichte immer nur einzelne Interaktionen, einzelne Systemzusammenhänge. Aber im Schnittpunkt von lokalen und globalen Entwicklungen zeigen sich die interessantesten Phänomene: Den Nationalstaat untersuchen die Autoren nicht als Ausgangspunkt, sondern als Produkt globaler Prozesse. Anders könnten sie den Fallen der älteren Historiographie auch nicht entfliehen: Gerade die Nationalgeschichte entstand, um Territorien, Völker oder Rassen zu einen. Um patriotisches Bewusstsein zu schaffen, konstruierte diese Sicht rückwirkend zusammenhängende Nationen oder ganze Reiche, wo es diese noch gar nicht gab. Asien beispielsweise umfasst mal China, mal zusätzlich Koreaner, Vietnamesen, Siamesen, Filipinos, Birmesen und Malaysier.

Dem Leser schwirrt beiweilen der Kopf. Mal beginnt die Globalisierung in der frühen Neuzeit, mal nach dem Zweiten Weltkrieg. Soeben unterwarf Europa die ganze Welt, dann wiederum unterschied es sich kaum von China, was alle ökonomischen Faktoren angeht.

Es gilt genau zu lesen: Ähnlichkeiten hervorzuheben, bedeutet nicht, die außerordentlichen Entwicklungen in Europa zu leugnen, allen voran die Revolution des Fleißes, die der im Band vielzitierte Jan de Vries ausgemacht hat: Eine Effizienzsteigerung innerhalb Europa entfesselte erst die kapitalistische Kraft, die zur industriellen Revolution überhaupt nötig war. Weitere Faktoren sind Kohle und Holz als Energielieferanten, die neue Welt als Raum für überschüssige Bevölkerung und als Rohstofflieferant sowie das System des Sklavenhandels und die Plantagenwirtschaft. Beschleunigt wurde das Militär- und Handelswesen später vor allem durch die Konkurrenz zwischen den europäischen Nationen.

Das alles ist mal hoch abstrakt, mal konkret am Beispiel inszeniert und immer ein erkenntnisreiches Lesevergnügen. Die oft bekundete Befürchtung, Globalgeschichte verkomme automatisch zu einer Sekundärliteraturwissenschaft, bestätigt der Band nicht: Die Autoren sind quellenkundige Historiker, Orientalisten, Afrikanisten oder Sinologen.

Nüchtern gestaltet sich nach der Lektüre der Rückblick auf Kolonialismus und Imperialismus, die Ahnen der Globalisierung, weil klar wird, dass die nordatlantischen Nationen die Weltordnung noch dominieren – trotz aller Behauptungen in Bestsellern, die erneut den Untergang des Abendlandes beschwören. So wird es zum indirekten Verdienst des Bandes, die Wut ärmerer Länder verstehen zu helfen, eine Wut, die sich vielleicht vielerorts nur im Gewande der Religion äußern mag. Die Geschichtsschreibung der Globalisierung darf hier nicht, so einer der dringlichsten Appelle im Band, nur akzeptieren und beschreiben. Sonst legitimiert sie einmal mehr den liberalistisch-kapitalistischen Eroberungshunger. Und den hat mittlerweile nicht mehr nur das Abendland.

Sebastian Conrad, Andreas Eckert, Ulrike Freitag: Globalgeschichte. Theorien, Ansätze, Themen. Campus 2007. Preis: 24 Euro. Rezensiert für die „Politische Literatur“ im Deutschlandfunk.