Wsewolod Iwanow war führender Zensor von Literatur in der Sowjetunion.
Im Geheimen aber schrieb er den Roman „U“, eine Satire auf den Kommunismus. Klingt subversiv, liest sich aber nur schwerfällig.

Es scheint zunächst eine besondere Trouvaille, die der Verlag Matthes und Seitz Berlin seinen Lesern bietet: Der Roman „U“ von Wsewolod Iwanow. Eine absurde Satire über die sowjetische Gesellschaft und die Utopien des Kommunismus. Nicht etwa von einem Dissidenten oder Untergrundliteraten geschrieben: Iwanow leitete Mitte des 20. Jahrhunderts ausgerechnet den „Litfond“, eine sowjetische Institution, die über Autoren und Förderung – und damit auch über Zensur entschied. Ein Zeugnis eines gespaltenen Lebens!

Diese Satire auf das Sowjetleben entfaltet ihre Sprengkraft vor allem durch die Biographie des Autors: Denn Wsewolod Iwanow, geboren 1895, gestorben 1963, war nach außen ein Vorzeige-Sowjet und Literatur-Funktionär: erprobt im russischen Bürgerkrieg, Weggenosse Trotzkis, aufgestiegen bis in die innersten Zirkel um Stalin, Sekretär des ersten Kongresses sowjetischer Schriftsteller und später Vorsitzender des Literaturfonds.

Im Geheimen jedoch schrieb Iwanow unter anderem „U“, ein zu Lebzeiten unveröffentlichtes Buch, das den Kommunismus ins Lächerliche zieht. Darin begleitet der Ich-Erzähler, Jegor Jegorytsch, eigentlich ein leicht tumber Buchhalter in einem Krankenhaus, seinen Chef auf eine seltsame Mission. Der heißt Dr. Andrejschin, ist Psychoanalytiker und bräuchte eigentlich selbst mal eine Therapie. Er geht wirren Gerüchten von zweien seiner Patienten nach – die wurden eingewiesen, weil ihnen eine selbstgefertigte Krone gestohlen worden sei, die eigentlich für den Kaiser von Amerika bestimmt war!

Die Recherchen führen Andrejschin in ein Haus in Moskau, in eine verrückte Utopie-Brutstätte mit dem undurchsichtigen Funktionär Tscherpanow mittendrin. Er will ausgerechnet hier für ein Großbauprojekt Arbeiter rekrutieren, die er nebenbei zu neuen Menschen umformen möchte.

Ja, hier geht es wild durcheinander: das ständige Gerücht vom bedrohlichen amerikanischen Kaiserreich als Überzeichnung der paranoiden Sowjetpropaganda; sowjetische „Ingenieure der Seele“, die Dümmlinge und die Bourgeoisie „umschmelzen“ möchten in den „neuen Menschen“, und zwar durch Psychoanalyse, Kastration oder Arbeitslager; ein Haus als Kommune, in dem selbst die Frauen als Besitz vergemeinschaftet werden… Die Diskussionen, Träume, Utopien in diesem sowjetischen Zauberberg-Häuschen vermischen sich bisweilen zu einem surrealen Strudel.

Iwanow hat das nie veröffentlicht, nur wenigen Freunden zum Lesen gegeben und sich sonst ausgeschwiegen. Über seine Motivation zum Buch kann man nur spekulieren. Womöglich musste selbst Iwanow, der Literaturfunktionär, sich dann doch die Absurdität des Sowjetlebens von der Seele schreiben.

Auch formell wagt Wsewolod Iwanow in seinem Roman Einiges, beispielsweise seltsame Vergleiche: Ein Mann hat Augen „mit dem Charme von Mineralwasser“. Der Doktor hat die „fröhliche Entschiedenheit des Schalldämpfers“. Der Handlung ist neckisch ein ganzer Anmerkungs-Apparat vorangestellt, der die fein verästelten Fachdiskussionen schon vorab bewusst parodiert. Außerdem webt Iwanow mit seiner unglaublichen Belesenheit überall unendliche Motive aus Marxismus, Psychoanalyse und Literatur ein, ob nun aus dem Schelmenroman oder der russischen Klassik. Doch leider bleibt alles nur ein blutleeres Tohuwabohu.

Dabei wurde der Roman so gelobt. Bei genauerer Betrachtung aber erweisen sich viele einstige Label für den Roman als übertrieben: Der „mit Tschechow multiplizierte E.T.A. Hoffmann“, als der Iwanow einmal beschrieben wurde, ist hier nur halb sichtbar. Stattdessen kämpft man sich durch eine unterschiedslose Kaskade von Saufgelagen, Keilereien, wütenden Diskussionen, Schreien, Liebeleien.

Am Ende ereignen sich Mord, Verhaftung, Liebessehnen, aber da interessiert es schon nicht mehr. In einer Szene singt eine Zimmergemeinschaft zunehmend betrunken das Lied „Unser Leben vergeht“, bis nur noch ein kehliges, tierisches „U“ bleibt. Das ist symbolisch für das Verwaschen aller Utopien, aller Träume – und aller Klarheit beim Lesen.

Lobenswert ist allerdings die Übersetzung von Regine Kühn, die Psycho-Sprech, Funktionärsgehabe und Volkes Stimme transportieren kann. Lobenswert ist auch das äußerst kenntnisreiche Nachwort von Alexander Etkin, das dringend nötig ist, um die unfassbar zahlreichen Anspielungen Iwanows zu würdigen. Doch selbst Etkind gesteht hier, dass „U“ schwer lesbar ist. Iwanow mag ihm zufolge den subversiven Autoren Andrej Platonow und Michail Bulgakov fast ebenbürtig sein – das heißt leider nur, dass der Roman ein literaturhistorisches und ideengeschichtliches Interesse befriedigt. Mehr nicht.

Wsewolod Iwanow: U. Aus dem Russischen übersetzt von Regine Kühn. Erschienen bei Matthes und Seitz Berlin. 559 Seiten kosten 28 Euro.

Für begrenzte Zeit ist der Beitrag hier im SWR abhörbar.