Endland ist ein düsteres Fleckchen. Man könnte vermuten, es ginge um England, ginge es nicht so dermaßen apokalyptisch zu: Gestrandete schnüffeln Feuerzeugflüssigkeit. Mafiabanden ziehen marodierend umher. Hungersnöte zwingen Teenager in die Prostitution. Und die Polizei hat die Aufgabe, immer erst dann am Ort eines Verbrechens aufzutauchen, wenn die Schießereien und die Messerstechereien längst vorbei sind. In gnadenlosem Tempo serviert uns der Brite Tim Etchells seine kurzen Schicksalsgeschichten. Im extremsten Fall werden die Protagonisten in zwei Sätzen vorgestellt: Morton, der mit dem losen Mundwerk, und sein frecher Bruder Kermit. Zwei Sätze, um die Figuren einzuführen, zwei, um sie zu erledigen. Und genauso lakonisch fasst Tim Etchells die Geschichte auch zusammen:
„Es traf sich, dass in der Stadt, in der sie beide in Endland lebten, der Ausnahmezustand verhängt wurde. Die britische Armee übernahm die Kontrolle und die beiden wurden bald von einem Exekutionskommando erschossen.“
Das war’s schon. Die meisten Geschichten in Tim Etchells Erzählungsband „Endland“ sind länger, aber kalt und hart ist der Blick des Autors überall. Wie Strichmännchen wirken die Figuren, keinerlei prunkvolles Dekor schützt den Leser vor dem sinnlosen, nackten Tod der Figuren. Ein Happy End gibt es fast nie. Aber gerade deshalb haben die Geschichten den Reiz des Unverfälschten.
„Ich finde, diese Figuren handeln wie im Cartoon. Die Welt überhaupt hat etwas von einer comic-artigen Dünnheit. Die Geschichten sind sehr kurz, geradezu kondensiert. Mit ein paar Worten erschafft man Leben, mit ein paar Worten zerstört man es… Es ist alles eine sehr schwarze Komödie, lustig und schrecklich zugleich. Diesen Balanceakt zwischen Komödie und Tragödie finde ich interessant: Du weißt nicht, ob Du lachen oder weinen sollst.“
In der Tat erheitert so mancher absurde Einfall trotz des nihilistischen Grundtons: Da führt ein Lehrer ein Theaterstück mit seinen Schülern auf und setzt als Utensil echtes Plutonium ein, weil er ja die Theaterrichtung des „illegalen Realismus“ erfunden hat.
Schauplätze in Endland sind unter anderem eine „Oben-ohne-Frittenbude“ oder eine aufblasbare Hüpfburg. Dazu hat sich der Autor einen Spaß mit Namen gemacht: Slapstickmäßig eingreifende Götter nennen sich Apollo 12, Herpes oder Vesuv.
Mal mokiert sich der Erzähler über alles, mal gibt er zu, dem Leser wichtige Details vorzuenthalten, dann wiederum holt der Erzähler weit aus, weil er davon ausgeht, der Leser ergötze sich an den Brutalitäten. Diese irritierende Ansprache bringt Etchells aus seiner 20jährigen Erfahrung als Theater- und Performance-Künstler mit.
„In meinem letzten Stück sagte ein Schauspieler zum Publikum: Ich glaube, ich habe mich verliebt. Wenn man das zu 200 Leuten sagt, ist das sehr schräg. Aber er tut so, als würde er das so meinen. In meinen Erzählungen versuche ich so etwas Ähnliches auch oft. Der Erzähler spricht den Leser oft an, nach dem Motto: ‚Wir wissen doch alle…Der Leser ist sicher erfreut, das hier zu lesen…‘ Als Leser stutzt man und denkt: Mit wem redet der, doch wohl nicht mit mir?!“
Überhaupt spielt Etchells mit Sprachstilen: Mal nutzt er Gossenslang, mal die krampfhaft distinguierte Sprache von Popliteraten und Filmkritikern. Mehrmals erinnern die Geschichten im Aufbau an Parabeln, biblische Geschichten oder Märchen, etwa die Erzählung von den Zwillingsmädchen, die von einem krankhaften Typen getrennt werden: Die eine verwöhnt er wie eine Prinzessin, die andere erniedrigt er monatelang aufs Schlimmste.
“Ich sammele Sprache, die mich interessiert. Bevor es das Internet gab, sammelte ich zum Beispiel diese dummen Paperback-Bücher, wie zum Beispiel: Die Bibel, geschrieben in Ghetto-Slang. Heute ist das Internet eine Art riesiges Depot mit seltsamen Texten. Ich mag diese verschiedenen linguistischen Formen. Die wollte ich zusammenstellen.“
Eine Moral, zum Beispiel bei der Zwillingsgeschichte, gibt es allerdings nicht. Die Enden sind meistens Anti-Enden. Figuren werden erschossen, verschwinden, oder werden ins künstliche Koma versetzt. Etchells zeigt damit, wie brutal die reale Welt und wie flach und kurzatmig die medial vermittelte Welt heutzutage sind.
Hier trifft William Burroughs auf Splatterfilme, hier mixt sich ein Hauch von David Foster Wallace in eine düstere Kriegs- und Mafiawelt. Formell immer wieder reizvoll und ideenreich, ermüdet die Drastik den Leser jedoch schnell.
„Endland“ ist wohl nicht geeignet für Freunde beschaulicher Sonnentage im Gartenstuhl. Eher für die, die gerne mal sarkastisch über die dunkle Wut des Schicksals lachen und sich regelmäßig eine Story als schwarzen Morgentrunk genehmigen wollen.
Der Erzählungsband “Endland” von Tim Etchells ist bei diaphanes erschienen, hat 240 Seiten und kostet 19 Euro 90.