Ende der Achtziger Jahre starten die deutschen Erstklässler Kym, Tym und Martyn ins Weltall. Und dort erleben sie allerlei: Mal altern sie plötzlich um zehn Jahre, mal tanzen sie auf Meteoritengürteln wie in einer Disco, mal begeben sie sich unter die Zelldusche. Sie erleben die deutsche Einheit, bevor sie auf der Erde stattfindet, und sie diskutieren die deutsche Raumfahrtgeschichte. Ein multimedialer, hart geschnittener und schizophrener Wahrnehmungsstrom, in dem Handlung und Figurencharaktere nur rudimentär angelegt sind – meint auch der Autor Jörg Albrecht:
„Auf der Handlungsebene ist es so, dass es Kinderastronauten sind, die von der Bundesregierung ins All geschickt werden. Zwischendurch reisen sie zurück in der Zeit. Klar: Das ist eine Fiktion, aber das ganze Buch ist eine Fiktion, damit kann man spielen.“
Es geht um den Weltraum, und wie wir ihn durch historische Berichte, Wissenschaft, Filmaufnahmen, Vorabendserien, Musikvideos und Science-Fiction wahrnehmen. MTV, Raumpatrouille Orion, die V2-Rakete und Guido Knopp verschwimmen mit Science-Fiction. Dementsprechend klingen auch Jörg Albrechts Lesungen:
„Wir in der Luft – wir sind Leuchterscheinungen, kurz, wie keine Oper je sein könnte…Sternschnuppen sind wir, sage ich, sagt Kommander Kim, der das Raumschiff auf Kurs hält, doch alles ist überlagert. Die Kopfhörer haben die Hörkraft außen gelassen, die Töne außen vor. Wer singt denn da? Die Triebwerke, die Luft in unserem Shuttle, der Ventilator?“
Seine Lesungen peppt Albrecht gerne mit Schnelligkeit, Sounds und Stimmenverzerrer auf. Englische Zitate aus MTV-Videos, Wortspiele, Wiederholungen machen sein Buch auch fast zu einem Drehbuch für eine Performance. Viele zu Unrecht bejubelte Popliteraten der letzten Jahre begnügten sich damit, ihre gegenwärtigen Subkulturen in recht konventionelle Erzählformen zu betten und Atmosphäre ziemlich einfallslos durch Songzitate zu schaffen. Albrecht dagegen überholt den emphatischen Pop-Begriff des „Jetzt“ mit Überlichtgeschwindigkeit. Pop ist Montage, Oberflächenästhetik ohne psychologische Tiefe und damit formales Programm – auch bei Jörg Albrecht. Das lässt den Kopf des Lesers schon einmal schwirren. Doch im Leben, meint Jörg Albrecht, verstünde man ja auch nicht jeden Satz, den man hört.
„Es geht darum, der Musik des Textes zu folgen, sich dem zu überlassen. Das ist aus der Art, wie ich Wirklichkeit wahrnehme, entstanden. Wenn ich mit Menschen zusammenkomme, kann ich viel an ihrem Gesicht ablesen, oft aber auch nicht. Wenn ich einen Erzähler einsetze, kann der nicht ins Innere gucken. Im Grunde ist klar, dass die Psychologie etwas von außen Projiziertes ist. Das muss man zeigen. Das kann man Oberfläche nennen. Wem das nicht genug ist, dem kann ich nur sagen: Mehr sieht man im Leben nicht!“
Allerdings beschreiben die drei Kinderastronauten dann doch nicht nur, was sie erleben, inkonsequenterweise und glücklicherweise, möchte man sagen. Sie decken auf, dass Raumschlachten in Starwars-Filmen den Verfolgungsjagden von Sturzkampf-Flugzeugen aus dem Zweiten Weltkrieg nachempfunden sind. Und auch Kritik an den Medien und Machtverhältnissen hört man aus den Diskussionen der drei heraus: Wie konnte das Raketengenie Wernher von Braun so unbeschadet nach der Nazizeit bei den Amerikanern weiterforschen? Wie verengen die ZDF-Sendungen von Guido Knopp unser Wissen von der deutschen Raumfahrtgeschichte, vor allem aus der Nazizeit?
„Mich nervt daran, dass so eine Mischung von Fiktion und Wissen geboten wird, aber es wird nicht offensichtlich gemacht, was Fiktion ist und was nicht. Es gibt Untersuchungen, dass verschiedene Zeitzeugen in verschiedenen Sendungen in verschiedenen Funktionen vorkommen. Das finde ich fragwürdig und schlimm, gerade beim Thema Nationalsozialismus.“
Mehr oder weniger deutlich erweist Albrecht seinen Vorbildern die Ehre: Eine Trackliste der Musik, die Astronauten auf Minidisc mit ins All nahmen, erinnert zum Beispiel an den Pop-Literaten Andreas Neumeister, der die Trackliste an sich zu einer Textgattung erhob. An Marcel Beyer und seine literarische Hörgeschichte des Nationalsozialismus erinnert das Buch auch – nur dass sich Albrecht in seinem Überschwang gleich eine Musikgeschichte des Universums vornimmt.
Fußnoten führen einzelne, ausufernde Erzählstrang weiter, erläutern und assoziieren wild. Dadurch zerfallen die Figuren am Ende, was die chaotische Ordnung des Wissens im Medienzeitalter simuliert.
„Es entspricht dem, wie ich in meinem Alltag Wissen begegne: Ich springe in Texten nach unten, wie bei einem Link. Das interessiert mich, das im Medium Buch auszunutzen…und den Leser vom linearen Lesen loszulösen. Ich habe für mich die Aufgabe formuliert: Solange ich im Medium Buch arbeite, die Grenzen dieses Mediums auszuschöpfen. Und da kann man spielen, das Buch als Form rechtfertigen und auch aktualisieren.“
Das Werk des erst 1981 geborenen Autors ist extrem einfallsreich darin, die Erzählstrukturen von Musik, Film und Internet vor- und zurückzuspulen. Aber es verlangt dem Leser manchmal viel Durchhaltewillen und eigene Ordnungsstiftung ab. Dies dürfte manchem Leser trotz aller Fiktion zu nah am Sachbuch liegen. Als Performance berauschend, als Lektüre ermüdend, es sei denn, man macht ernst und liest alles lustvoll durcheinander.
Jörg Albrechts Roman „Sternstaub, Goldfunk, Silberstreif“ ist im Wallstein Verlag erschienen. 231 Seiten kosten 19 Euro 90.