Was haben mittelalterliche Mönche, die Bücher kopieren, mit Anwälten von Fluggesellschaften gemeinsam? Seit Gründung des Unternehmens Flightright so Einiges: Beide durften eine Disruption durchleben. Startups streben so etwas heutzutage an.
HINWEIS: Für begrenzte Zeit kann der Beitrag auf den Seiten der SWR2-Matinee nachgehört werden.
Die zündende Idee hatte Philipp Kadelbach 2010. Sein Flug von Amsterdam nach Berlin hatte 7 Stunden Verspätung. Kadelbach ärgerte sich, las sich die Fluggastrechteverordnung durch und merkte: Jemand wie er hatte vielleicht Anspruch auf Entschädigung. Aber die 250 bis 600 Euro wären den meisten Anwälten als Streitsumme zu gering für den bürokratischen Aufwand – und jemandem wie Kadelbach, selbst Anwalt, auch, erzählt der Gründer:
„Wenn das mir als Rechtsanwalt schon so geht, wie geht es denn dann den anderen Fluggästen dieser Welt? Das war sozusagen der Gründungsmoment, um dann eben flightright zu gründen!“
Im Frühjahr 2010 startete das Unternehmen. Bei Verspätungen kann ein Fluggast online seine Entschädigung beantragen, Flightright ficht den Fall dann vor Gericht für ihn aus. Verliert Flightright dort, übernimmt die Firma die Prozesskosten. Kadelbach sieht nur Vorteile aus Sicht des Kunden:
„Ich habe kein Risiko. Ich muss nicht in Vorleistung gehen und wenn es gut läuft, muss ich eine Provision von 25 Prozent an den Dienstleister abtreten. Ja.“
Das läuft so gut dank einer eigens dafür entwickelten künstlichen Intelligenz, die anhand vieler Faktoren ermittelt, wie wahrscheinlich ein juristischer Sieg ist: Wie zahlungsfreudig war die Airline früher, stimmen die angegebenen Gründe für die Verspätung… und so weiter. Das ist das absolut Neuartige an der Idee. Und es scheint zu funktionieren: 400000 Fluggäste haben den Service mittlerweile genutzt.
Disruptiv im strengen Sinn ist Flightright nun nicht gegenüber den Airlines, sondern gegenüber den Anwälten, die kleine Kunden wie Fluggäste bislang vernachlässigt haben. Anwälten, die den Tunnelblick des Jurastudiums haben und jeden Fall als Einzelfall sehen und deshalb Fälle niemals bündeln würden wie flightright, meint Kadelbach:
„Das funktioniert eben nur, wenn ich schon akzeptiere, dass nicht jeder Fall individuell ist, sondern dass ich ganz viele Gemeinsamkeiten habe und die nach ähnlichen Prinzipien abwickeln kann. Schema F!“
Dieser Gedanken hat die Branche erschüttert. So sehr, dass mittlerweile viele Großkanzleien umgesteuert haben. Sie haben ganze Abteilungen voller IT-Spezialisten geschaffen, die Fälle bündeln, zum Beispiel im Dieselskandal rund um Volkswagen.
Eine solche Umwälzung zu schaffen, gehört in der Startup-Szene fast schon zum guten Ton, sagt Alexander Rabe vom Branchenverband der Internetwirtschaft, Eco:
„Selbstverständlich weiß gerade im Bereich Startups jeder Gründer: Wenn er es schafft, sein Geschäftsmodell so zu positionieren, dass es Außenstehenden klar wird: ‚Wow, das verändert jetzt maßgeblich das bestehende Geschäft!‘, natürlich Investoren ganz anders die Tasche öffnen und sich beteiligen wollen.“
Schön für Investoren und hippe Gründer, aber was ist mit den Menschen, die Angst haben, ihre Arbeitsplätze bei Disruptionen zu verlieren? Alexander Rabe glaubt, man sei in Deutschland technologieskeptischer als anderswo. Er warnt davor, neue Technologien vorab durch Gesetze auszubremsen. Disruptionen führten zu Marktöffnungen, zu neuen Technologien, die allen zugute kommen, zu mehr Demokratisierung, zu neuen Arbeitsplätzen.
Ihn erinnern die Diskussionen oft an eine der wichtigsten Umwälzungen unserer Kulturgeschichte: den Buchdruck. Vielleicht eine Disruption avant la lettre, da der Begriff ja erst in den 1990er Jahren geprägt wurde. Mönche waren zu Gutenbergs Zeiten in ihrem Monopol auf Schriftbeherrschung bedroht und führten allerlei alarmistische Argumente zum Pfründeschutz ins Feld, erzählt Alexander Rabe:
„Wenn wir den Buchdruck damals reguliert hätten im Sinne der Mönche, dann könnten wir heute immer noch darauf warten, dass wir handschriftliche Kopien der Tageszeitung aus dem nächstgelegenen Kloster erhalten!“
Dabei heißt disruptiv zu sein, nicht in jedem Fall auch erfolgreich zu sein, am Markt zu bestehen, betont Rabe:
„Unbedingt, würde ich absolut zustimmen. Denn nicht jeder, der eine Technologie entwickelte, die am Ende komplette Branchen gewandelt hat, war dadurch am Markt erfolgreich!“
2012 wäre das bei Flightright fast so weit gewesen: Damals ging das Geld zuneige. Die Flugunternehmen zahlten keine Entschädigungen und warteten ein Grundsatz-Urteil des Europäischen Gerichtshofes ab. Das kam schließlich, fiel im Sinne von Flightright und seinen Kunden aus, die Airlines zahlten. Glück und gutes Timing bei allen Komponenten des Geschäftsmodells, meint Philipp Kadelbach heute erleichtert:
„Aber das hätte sein können, dass wir ein Stück weit zu früh sind oder Pech gehabt haben, dann hätte ggf. jemand zwei, drei Jahre später im Kontext des Dieselskandal das angeguckt und die gleichen Komponenten genommen, und die hätten dann funktioniert.“
Disruption hat eben nicht nur mit der richtigen Idee zu tun, sondern auch mit dem richtigen Zeitpunkt. Damit, dass die vorherigen Strukturen Risse zulassen, wenn nicht gar einfordern.
Für die Matinee in SWR2.