90 Schusswaffen pro 100 Einwohner, die Hälfte der Bevölkerung besitzt Pistolen, Schrotflinten, Jagdgewehre oder gar Pumpguns. Wenn es um Waffen geht, dann lassen die USA jedes andere Land in der Statistik weit hinter sich. 80 Amerikaner sterben pro Tag durch Kugeln. Schärfere Gesetze sind nicht in Sicht. Warum?Im Land der Cowboys, Jäger und kernigen Gestalten wird man sie schlicht nicht durchsetzen können. Denn der Waffenbesitz ist tief verbunden mit dem amerikanischen Selbstverständnis. Ein Blick in die Seele einer wehrhaften Nation.

Schüsse am Schießstand

Schuss auf Schuss in die Herzgegend – die Papierzielscheibe mit einem menschlichen Oberkörper in zehn Meter Entfernung flattert. Hier, in einer der 17 Schießkabinen in der unterirdischen betonierten Halle zeigt Darren Leung, 34, sein jahrelang trainiertes Können. Junge Männer wie auch Senioren stehen hier mit Westen und Schutzbrillen und visieren konzentriert ihre Ziele an. Es ist Manhattans größter Schießstand, die West Side Rifle and Pistol Range. Darren arbeitet seit mehreren Jahren hier und weiß, wer hierher kommt.

„Hobbyschützen, Polizisten, Militärangehörige, Studenten, Ärzte, Rechtsanwälte, einfach normale Leute, von denen man es vielleicht gar nicht erwarten würde. Ein guter Freund von mir kommt hierher, er ist Teil der schwulen Community in New York, niemand würde glauben, er besitzt Waffen…“

Ähnlich ist es bei Matthew Bridge, einem 28jährigen Doktoranden für französische Literatur an der Columbia-University, seit einigen Wochen Kunde des Schießstands. Seine fein geschnittenen Gesichtszüge verleihen ihm ein sensibles, intellektuelles Aussehen, er bezeichnet sich selbst als politisch liberal, vielleicht sogar links eingestellt.

„Man weiß nie, was passiert. Ich hoffe, ich muss die Waffe nie zur Verteidigung einsetzen. Aber bei Unruhen, einem Hurrikan oder terroristischen Attacken bricht vielleicht die öffentliche Ordnung zusammen.   Dann möchte ich mich nötigenfalls verteidigen können.“

Diese Angst vor dem Chaos ist tief in der amerikanischen Seele verankert, erklärt Robert Shapiro, Politikprofessor an der Columbia-University.

„Das atmet den Geist der britischen Kolonialzeit. Damals mussten sich die Siedler gegen die Indianer verteidigen. Außerdem hatte jede einzelne Kolonie eine eigene Miliz zum Schutz. Die haben zum Beispiel gegen die Franzosen gekämpft. Bei allem ist das Recht, Waffen tragen zu dürfen, wichtig, denn die Miliz musste ja nun einmal bewaffnet sein. Als nun die Revolution gegen die Briten einsetzte, hatten die Amerikaner also Waffen!“

Schon vor dem Unabhängigkeitskrieg gab es ‚Minutemen‘, bewaffnete Milizionäre, die innerhalb einer Minute einsatzbereit sein sollten. 1775 bezwungen solche Minutemen bei Lexington und Concord in Massachusetts britische Soldaten – der begonnene Krieg führte später zur Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten. Kein Wunder also, dass Waffenbesitz für viele Amerikaner gleichbedeutend ist mit Freiheit und Selbstbestimmung, festgeschrieben im zweiten Zusatz zur Verfassung der USA. Professor Shapiro:

„Dazu spielt hinein, dass man sich zur Not auch gegen die eigene nationale Regierung wehren können muss. Zu bestimmten Zeiten, zum Beispiel in den Sechziger Jahren, meinten einige Afroamerikaner, sie müssten sich gegen die Staatsgewalt verteidigen können. Aber das gibt es heute kaum noch.“

So manche Europäer mögen im Gedenken an den totalen Krieg im Zweiten Weltkrieg Colts und Gewehre als Gefahr für den zivilen Frieden werten. Amerikaner ziehen da ganz andere Lehren, zum Beispiel der 58jährige Kevin McGuire: Diktatoren wie Hitler müsse man abwehren können.

„Er wollte die Macht erlangen und sie behalten. Er war verschärfte die Waffengesetze für Bürger, aber nicht für Parteimitglieder! Das ist für einen Diktator sehr wichtig. So etwas wird bei uns wegen unserer Verfassung nicht passieren!“ 

Mehr noch als staatliche Konflikte prägte aber die lange Erfahrung der Grenze zum Unbekannten die amerikanische Waffenliebe. Die junge Nation dehnte sich in den Jahrzehnten nach 1776 weiter nach Süden und Westen aus. Genau deshalb sind es gerade die Bundesstaaten in diesen Teilen der USA, in denen die Cowboymentalität herrscht, sagt Professor Shapiro. Im Nordosten denke man anders:

„Hier erscheint es uns fremd, dass jeder Andere Waffen trägt. Im Rest des Landes ist das sehr normal. Mancherorts darf man sogar mit offen zur Schau gestellter Waffe herumlaufen oder eine Gewehrhalterung an seinem Truck anbringen. In Texas ist das zum Beispiel so.“

Je nach Bundesstaat sind Waffen immer noch leicht zu erhalten. Mal gibt es eine Backgroundcheck, mal zusätzlich eine Frist von 48 Stunden, mal ist eine Genehmigung der städtischen Polizei oder bundesstaatlichen Regierung nötig. Aus den Erfahrungen der Schulmassaker an der Columbine High School und der Universität Virginia Tech ziehen die meisten Amerikaner aber nur bedingt Schlüsse. Professor Shapiro:

„Etwa 60 bis 70 Prozent der Amerikaner wünschen eine strengere Kontrolle bei militärischen Waffen wie Sturmgewehren. Aber bei Jagdflinten und Handfeuerwaffen ziehen sie eine Grenze. Die Öffentlichkeit ist da gegen ein Waffenverbot.“

Ein striktes Verbot wird ohnehin kein Bundesstaat aussprechen können, das hat erst kürzlich wieder der oberste Gerichtshof der USA entschieden. Dass Verbrecher Waffen nutzen, ist für Darren kein Argument gegen laxe Waffengesetze, ganz im Gegenteil.

„Das Fundament dieses Land ist das Recht auf Freiheit und auf das Streben nach Glück. Jeder Mann, jede Frau, jedes Kind begreifen, dass sie ein unveräußerliches Recht auf Freiheit haben. Dafür braucht man Waffen! Das ist verdammt nochmal richtig! Jeder, der mit dem Rücken zur Wand steht, kämpft. Wenn man schießen muss, um seine Familie zu schützen – würdest Du das nicht tun?!“

ATMO Shotgun

(für SWR2 Matinee)