Der fiktive Erzähler Nam Le studiert Creative Writing in Iowa. In seinem kleinen Appartement stapeln sich schmutzige Teller, Teetassen, Whiskeypullen, Aschenbecher und Klamotten auf dem Tisch ebenso wie auf dem Boden. Denn der übernächtigte Le leidet unter einer Schreibhemmung und Ideenarmut. Da besucht ihn kurzfristig sein Vater aus Vietnam. Er erzählt zum ersten Mal davon, wie er das Massaker in My Lai erlebte, und liefert damit Material für eine hastig getippte Geschichte innerhalb der Erzählung:
Zerschlitzte Kehlen, zertrümmerte Babyschädel, MG-Salven…das klingt nach einer Authentizität, nach der gehörigen Prise Politik, die das literarisch weniger versierte Publikum seit jeher anlockt, nach dem ewigen Creative-Writing-Credo: Schreibe über Deine eigenen Erfahrungen. Gleich die erste der sieben Geschichten im Erzählungsband „Im Boot“ allerdings karikiert das:
„’Ethnoliteratur ist schwer angesagt‘, hörte ich von einem unserer Kursleiter an der Bar. ‚Und relevant noch dazu.‘ Zwei Literaturagentinnen sahen es ähnlich. ‚Begabte Autoren gibt es reichlich‘, sagte die eine. ‚Es kommt darauf an, sich von ihnen zu unterscheiden.‘ Sie wandte sich zu ihrer Kollegin, die ihr sofort assistierte. ‚Durch persönlichen Background und Lebenserfahrung’“
Der echte Autor dieser Erzählungen heißt ebenfalls Nam Le, kam mit seiner Familie als vietnamesischer Bootsflüchtling nach Australien, hat später ebenfalls im amerikanischen Iowa Creative Writing studiert – und schreibt gerade mit seiner ersten Erzählung gegen diese Erwartungen von Ethnoliteratur an: Dem fiktiven Nam Le kommen Zweifel: Erinnert er sich noch genau an die Erzählung seines Vaters? Oder schmückt er schon aus? Immer unvollkommener erscheint die Literatur gegenüber dem Leben. Vor allem am Ende der Erzählung, als der Vater das Manuskript verbrennt. Man verstummt vor dem Talent, mit dem Historie in ein familiäres Drama verwandelt wird. Das Schuldgefühl des Überlebenden schwebt dunkel über allem, ebenso die Verzweiflung des jungen Schriftstellers, dessen Worte und dessen Verständnis versagen. Alles bewegt tief, ohne dass Nam Le es direkt beschreibt.
Das ist nicht unbedingt einer biographischen Nähe zum Thema geschuldet. Es gebe keinen Ort, der uns nicht fremd wäre, sagte Nam Le einmal in einem Interview. Und so führen die Erzählungen uns etwa in den Iran, ins New Yorker Künstlermilieu, nach Hiroshima oder in eine sterbende australische Küstenstadt. Offenbar hat Le einige Geschichten aussschließlich vom Schreibtisch aus recherchiert. Les Talent macht die Erzählungen dennoch stimmig und mitreißend.
Ein alternder Maler hofft, nach Jahrzehnten seine Tochter zu sehen – und erfährt, dass er Krebs hat. Ein Junge verliebt sich in ein Mädchen, das einen eifersüchtigen und gewalttätigen Freund hat. Immer wieder meistert Nam Le mehrere Erzählebenen pro Geschichte, verleiht seinen Figuren durch Flashbacks und authentisches Vokabular Tiefe. Etwa, wenn es um Ron, einen vierzehnjährigen sicario, eben einen Auftragskiller im kolumbianischen Medellìn, geht. Der spricht von basuca, der Droge, von der tiguria, einer Slumstadt aus Pappe. Als Ron seinen besten Freund umbringen soll, weigert er sich und wird daraufhin zu seinem Auftraggeber zitiert. Mit einem seiner stimmigen und starken Vergleiche ballt Nam Le den ewigen Moment der Todesangst zusammen.
„Dann ist es in meinem Kopf so dunkel wie in einem Gewehrlauf. Ich frage mich, ob die Geschichten wahr sind, die man sich im Barrio erzählt […]. Ob er mich bitten wird, ihm den Rücken zuzudrehen, oder ob er hinter mich treten wird.“
Allerdings gibt es auch schwächere Geschichten: Die Erzählung „Hiroshima“ will das Schicksal eines Schulkindes kurz vor der Atombombe zeigen. Was als Konterpart von abstrakten Opferstatistiken gedacht ist, wird nicht ganz lebendig, weil der Bewusstseinsstrom des Kindes fast nur aus japanischer Kriegspropaganda besteht.
Die Titelgeschichte „Im Boot“ will programmatisch das Schicksal vietnamesischer Bootsflüchtlinge in die Literatur einschreiben. Nam Le blickt immer wieder auf einen kleinen kranken Jungen, dessen bitteres Ende leider zu vorhersehbar ist.
Trotzdem: Dieser vietnamesisch-stämmige Australier, der in den USA gelebt hat und ein Stipendium in England erhalten hat, kann reflektiert und berührend zugleich über viele Orte und Figuren schreiben. Heimatlos wirkt das keineswegs. Nam Le muss sich nicht dem Marketingdenken der Verlage oder des Publikums beugen. Und wenn er, obwohl indirekt und gebrochen, über Vietnam arbeitet, ist das kein seichter Ethnokitsch, dessen Faszination sich in Folklore erschöpft. Es ist Literatur. Hier scheint auf, was es heißt, sich Lebensentscheidungen oder einem Schicksal stellen zu müssen, egal, wo und wann.
Nam Les Erzählungsband „Im Boot“ ist im Claassen Verlag erschienen und wurde von Sky Nonhoff übersetzt. 232 Seiten kosten 22 Euro.
Rezensiert für die „Buchkritik“ auf SWR2.