Eine französische Anwältin soll eine dreifache Kindsmörderin vor Gericht verteidigen – und hinterfragt in der Auseinandersetzung mit dem Fall ihre gesamte Existenz. Marie NDiaye gelingt in „Die Rache ist mein“ auf dichtestem Raum eine äußerst gekonnte Sozialstudie über den gesellschaftlichen Aufstieg und tiefen Fall von Frauen. Leider überreizt sie bisweilen eine leicht manierierte Ambivalenz-Ästhetik.
Marie NDiaye, geboren 1967, veröffentlichte schon vor dem Erwachsenenalter beim prestigeträchtigen Verlagshaus Les Edition de minuit ihren ersten Roman. Es folgten Romane, Theaterstücke, renommierte Preise wie der „Prix Femina“ und der „Prix Goncourt“ sowie für das gesamte Werk der „Prix Marguerite Yourcenar“ 2020. NDiaye, Tochter einer französischen Lehrerin und eines senegalesischen Vaters, der die Familie früh verließ, behandelt in ihren Büchern oft Brüche in Beziehungen und sozialen Gefügen.
Insbesondere die Frauenfiguren sind oft den Widersprüchen des Lebens ausgesetzt, die sie nur zugunsten großer Opfer lösen können – wenn nicht genau diese Widersprüche in NDiayes Ambivalenz-Ästhetik gleich gänzlich ungelöst bleiben. So wie im neuesten Roman: „Die Rache ist mein“ erzählt vordergründig von einer Mutter, die ihre Kinder ermordet; im Hintergrund aber stehen Themen wie die gesellschaftliche Stellung der Frau, ihr Auf- und Abstieg.
Und nicht einmal 240 Seiten benötigt Marie NDiaye! Und doch erforscht sie in ihrem neuen Roman „Die Rache ist mein“ nuancenreich und in drastischen Konstellationen eines der großen Themen der französischen Gesellschaft: die Vorteile und Schmerzen des sozialen Aufstiegs.
Im Zentrum steht eine Single-Frau, Anfang 40, die es als Tochter von kleinen städtischen Angestellten zur Anwältin in der Großstadt Bordeaux gebracht hat. Wie typisiert, gleichsam hinter der schützenden Maske des Berufstitels, lernen wir sie ohne Vornamen nur als „Maître Susane“ kennen. Verbeulter Twingo, kaum Mandate, krampfhafter Fleiß und eine eher kleine Wohnung. Außerdem: die Furcht, dem Kleinbürgertum der Eltern aus der Provinz nie ganz entronnen zu sein. Das sind die Leitplanken von Maître Susanes Lebensgefühl. Ein großartig pointiertes Frauenporträt.
Doch bald schon kippt Maître Susanes mühsam erarbeitete Dreiviertel-Würde in eine existentielle Verunsicherung; in grundsätzliche Fragen, die im Buch ständig wiederkehren und Marie NDiayes Ästhetik der Ambivalenz und Vagheit kennzeichnen:
„Aus welcher Hölle kommen wir hervor? […] Aus welcher Schlacht? […] Wer sind wir, hier und jetzt, füreinander? […] Eine Verletzung, ein Zeichen, eine Chance?“
Auslöser ist ein Herr aus gutem Hause mit dem höchst bourgeoisen Namen Gilles Principaux. Er sucht in einem prominenten Fall ausgerechnet Maître Susanes Dienste: Principauxs Ehefrau Marlyne hat die gemeinsamen drei Kinder eines Nachmittags nacheinander in der Badewanne ertränkt, offenbar völlig ungerührt. Polizei und Principaux sind fassungslos und stehen vor einem Rätsel. Der Ehemann aber steht zu seiner Frau, fürchtet ihre moralische Hinrichtung in der Öffentlichkeit und bittet darum, dass Maître Susane die Täterin verteidigt.
Eine erste Ambivalenz: Nimmt Maître Susane, trotz ihres mühsam erarbeiteten Renommees mit dem empfindlichen Gerechtigkeitsgefühl der unteren Klassen ausgestattet, so eine monströse Mandantin an? Ja, sie tut es. Und sie findet sich bald einem unheimlichen Spiegelbild gegenüber, wenn sie Marlyne im Gefängnis befragt. Hier Marlyne, die sich hochgeheiratet, eine Familie gegründet und diese wieder zerstört hat, da Aufsteigerin Maître Susane, die selbst gerne eine bürgerliche Existenz mit Kindern gehabt hätte. All dies beschreibt Marie NDiaye in einer reduzierten Sprache, die Claudia Kalscheuer adäquat nüchtern übersetzt hat. Das ist insbesondere dann schwer verdaulich, wenn Marie NDiaye die drastischen Geständnis-Monologe von Marlyne serviert.
„Aber sie wollten nicht sterben. Aber Jason hat gekämpft. Aber ich habe mit ihm gerungen, aber es hat nicht der Engel gewonnen, sondern ich, sondern seine liebende Mutter. Aber wie ich meinen ältesten Sohn liebte!“
Nach und nach stellt sich heraus, dass Marlyne nur durch den Kindsmord einem erstickenden bürgerlichen Ehegefängnis entfliehen konnte. Im Angesicht dieser Offenbarungen ist sich Maître Susane schließlich ihrer ureigensten Familienwünsche nicht mehr recht sicher. Sie pendelt zwischen Identifikation und Abscheu, und zwar sowohl was die Mörderin Marlyne als auch was Ehemann Gilles angeht.
Hinzu kommt, dass die Anwältin meint, Gilles in ihrer Kindheit schon einmal begegnet zu sein. Hat sie nicht in seinem Zimmer einst einen einschneidenden Nachmittag verbracht? Ihr Vater vermutet bis heute ein unsittliches Vorkommnis. Sie aber glaubt eher, der intelligente Gilles habe sie zum sozialen Aufstieg inspiriert. Und damit zur Distanz zum Herkunftsmilieu, eine Distanz, die ihr die Eltern bis heute übelnehmen. Ein Nachmittag – zwei Interpretationen. Noch Jahrzehnte später wird Maître Susane von widersprüchlichen Gefühlen überwältigt.
„Groß war ihr Erstaunen: Warum hatte sie Schmerz empfunden und nicht vielmehr Freude? Warum hatte sie, überzeugt, nach zweiunddreißig Jahren jemanden wiederzusehen, der sie hingerissen hatte, das Gefühl gehabt, man wolle sie töten?“
Und noch eine Ambivalenz: Ob das wirklich der Gilles Principaux von damals ist, darüber zermartert sich Maître Susane endlos Kopf und Herz. Infolgedessen stellt sich jede ihrer Beziehungen als Interaktion zwischen Angehörigen von Klassen dar. Und das droht, sie bis zur Identitätslosigkeit zu zerreißen. Je nach Gegenüber ist Maître Susane mal Kleinbürgerin, mal Bürgerliche, beispielsweise für ihre Putzfrau Sharon, eine illegale Einwanderin aus Mauritius.
„Sie spürt etwas an mir, aber was? Ich bin in ihren Augen nicht sauber, aber mein Gott, was habe ich denn getan, was mich so sehr besudelt hat, dass Sharon es wittert (etwas, das von meiner Haut ausgeht, von meinen Haaren, meinem Blick vielleicht) und mich deshalb voller Furcht und Ekel verabscheut? Oh ja, manchmal hasste Maître Susane Sharon geradezu dafür, dass sie von ihr, dieser jungen Frau, so ungerecht beurteilt wurde.“
Bitter für die bis zur Selbstaufgabe hilfsbereite Anwältin! Unüberbrückbare soziale Gräben, gegenseitiges Verkennen zwischen den Klassen und innerhalb der Klassen, Gespaltenheit der Individuen: Marie NDiaye schreibt sich damit ein in die Reihe französischer Autoren, die gerade wieder den Klassismus beschreiben, von Didier Eribon über Édouard Louis, Annie Ernaux bis hin zu Nicolas Mathieu.
„Die Rache ist mein“ exerziert das Klassismus-Problem in vielen Variationen durch: Bordeaux etwa schildert sie nicht als Perle an der Biskaya, sondern als sozial extrem segregierte Stadt. Und dann taucht da noch ein Mandant auf, der von Maître Susane eine Namensänderung durchfechten lassen will, weil er glaubt, einer seiner Vorfahren sei ein Sklavenhändler gewesen. Ein Nebenstrang, der die weiße Statuspanik auch noch einmal im Rassismus-Diskurs veranschaulicht. Dass dies NDiayes Rache an der ehemaligen Sklavenhandels-Hochburg Bordeaux sein soll, wie ein französischer Kritiker meinte, ist aber wohl doch ein bisschen zu diskursmodisch gedacht.
Der monströse Kindsmord gerät bei all dem übrigens fast ins Hintertreffen und wird den Lesern deshalb leider später nochmal mit allzu klobigen Wiederholungen ins Bewusstsein gerückt. Wer dieser Gilles Principaux wirklich ist, das bleibt bis zum Schluss unbeantwortet. Da gehen Marie NDiaye dann doch die Handlungsfäden ein wenig verloren und das lässt sich auch nicht, wie in der französischen Kritik geschehen, hochtrabend schönreden als genial konzipierte Uneindeutigkeit.
Wer Gilles allerdings für Marlyne war, das wird immer deutlicher: ein Patriarch, der seine Ehefrau zur Kinderaufzucht unterjochte und damit indirekt mitschuldig an den Morden ist.
Die Rache ist schlussendlich dieser überfällige Perspektivwechsel, ist die Verteidigung Marlynes vor Gericht. Vorgebracht von einer Anwältin, der das Bürgertum die Zugehörigkeit genauso verweigert hat wie ihr Herkunftsmilieu. Ein beeindruckendes Buch über diejenigen, die sich beim sozialen Aufstieg zu verlieren drohen.
Marie NDiaye: Die Rache ist mein. Aus dem Französischen übersetzt von Claudia Kalscheuer. 236 Seiten kosten 22 Euro.
Der Beitrag ist für eine begrenzte Zeit auf den Seiten des Lesenswert Magazin in SWR2 nachhörbar.