Die Menschenversuche von Naziärzten füllen mittlerweile Bände. Wenig bekannt jedoch sind hierzulande die japanischen Untaten während des Zweiten Weltkriegs in der Mandschurei. An Tausenden von Chinesen testeten Ärzte Milzbranderreger und Cyanid, trainierten hirnchirurgische Eingriffe, setzten selbst Säuglinge der Kälte aus. Und die USA verweigerten den Überlebenden von Hiroshima und Nagasaki zum Teil Medikamente, um ganz unverfälscht dokumentieren zu können, was die radioaktive Strahlung mit den menschlichen Körpern anstellt.

Es ist schon allein dies ein Verdienst des Buches „Fragwürdige Medizin“: gebündelt auf die grausamen Experimente in Deutschland, Japan und den USA seit Beginn des Zweiten Weltkriegs aufmerksam zu machen. Dabei geht es eigentlich um mehr, sagt der deutsche Herausgeber Gernot Böhme, emeritierter Philosophieprofessor an der TU Darmstadt.

„Das Besondere ist, dass nicht die Fakten im Vordergrund stehen, sondern das, was sich die Beteiligten dabei gedacht haben, ihre Rechtfertigungen: […] Wir haben uns überlegt: Was könnte davon relevant sein für die gegenwärtigen bioethischen Debatten?“

Erschreckend viel, stellt sich heraus. Denn die Rationalisierungen zielen ins Herz unserer Selbstwahrnehmung als ethische, aufgeklärte Gesellschaften. Zu oft tun wir die Menschenexperimente der Nazis als Forschungen inkompetenter, wahnsinniger oder gezwungener Mediziner ab. Die Autoren belegen: Im Zweiten Weltkrieg forschten deutsche oder japanische Ärzte oft freiwillig und wissenschaftlich versiert. Viele waren sich weder vorher, noch nachher einer Schuld bewusst. Sie führten wohldurchdachte, in ihrem Selbstverständnis ethische Gründe an. So zum Beispiel Victor von Weizsäcker, Neurologe und Befürworter einer völkischen Gesundheitspolitik. Gernot Böhme:

„Der Punkt war ja, dass viele Ärzte, unter ihnen auch von Weizsäcker, dachten: Wir brauchen eine neue medizinische Ethik! Wir können uns nicht mehr an den hippokratischen Eid halten. Die fühlten sich im Aufbruch zu etwas Neuem. Weizsäcker sagt: Der Arzt hat eine politische Aufgabe. Eine Krankheit ist nicht eine Krankheit des Individuums, sondern des Volkskörpers. Und von daher hat er auch eine Ethik der Vernichtung gefordert.“

Es sind solche Argumentationen, die dem Leser manches Mal den moralischen Boden unter den Füßen wegziehen. Wenn es gilt, einen Krieg zu gewinnen und Tausende der eigenen Soldaten gegen Krankheiten zu schützen – würde man selbst nicht vielleicht doch ein paar Opfer in Menschenversuchen einkalkulieren wollen? Opfert man heute der Forschung nicht auch lieber Embryos, um irgendwann Krankheiten heilen zu können? Fordert das unsere stolze, fortschrittliche Ära nicht geradezu? Die Autoren zeigen bedrückend, wie schnell der hippokratische Eid zu jeder Zeit gebrochen werden konnte.

Gerade auch in den USA. Sie hatten während des Zweiten Weltkriegs selbst kurz Menschenversuche mit Biowaffen durchgeführt.

„Die USA haben sich nicht sehr viel um diese Vergangenheit gekümmert. Sie haben das Böse auf Deutschland projiziert. Sie waren ja die Befreier. Der Blick auf Amerika ist für die Amerikaner neu.“

Höchstwahrscheinlich setzten die USA im Koreakrieg Biowaffen ein; es gab Giftexperimente in der New Yorker U-Bahn. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren: Die hysterische Angst der Bush-Regierung vor Massenvernichtungsmitteln liest sich so wie die Wiederkehr der verdrängten, nicht aufgearbeiteten Forschungsgeschichte.

Und das ist die Gefahr, so diagnostiziert Gernot Böhme am Ende hellsichtig: Eine Bioethik, die mit abstrakten Prinzipien hantiert, kann niemandem zum moralischen Handeln motivieren. Deshalb muss die junge Disziplin sich endlich ihrer dunklen Historie in allen Ländern öffnen. Nur wenn die früheren Verbrechen im Selbstverständnis unserer Gesellschaft wach bleiben, fallen wir nicht auf die verheißungsvollen, aber gefährlichen und angeblich wertneutralen Argumentationen heutiger Forscher herein. Ein nötiger Schritt in die Zukunft ist mit diesem Sammelband getan.

„Der Rechtfertigungszwang ist erheblich erhöht. Alle diese Ethikkommissionen sind vielleicht nur zur Absegnung von Entscheidungen da. Aber es ist ein gesellschaftlicher Konsens, dass man Menschenexperimente rechtfertigen muss. Also in der Hinsicht ist schon ein Fortschritt da.“

Der Sammelband „Fragwürdige Medizin. Unmoralische Forschung in Deutschland, Japan und den USA im 20. Jahrhundert“ ist im Campus-Verlag erschienen. Die Herausgeber sind Gernot Böhme, William LaFleur und Susumu Shimazono. 304 Seiten kosten 29 Euro 90.

(für SWR2)