Vom Zusammenbruch ihrer Welt sind alle Figuren in Elliot Perlmans neuem Roman „Sieben Seiten der Wahrheit“ bedroht. Nicht nur der materielle Ruin droht ihnen allen, sondern auch scheiternde Beziehungen, Gefängnis und Krankheit, sogar das Leben mit auferzwungenen Lebenslügen. Alles nur aufgrund von Missverständnissen, deren allgemeine Sprengkraft Perlman in seinem Buch auslotet. In Frankreich und im angelsächsischen Sprachraum war es ein Bestseller. Pascal Fischer hat mit dem Autor gesprochen.
“Ich musste den Roman erst planen. Er war viel zu kompliziert dafür, dass ich das Risiko eingegangen wäre, an ihm zu scheitern. Eigentlich habe ich seine Architektur viel früher entworfen, 14 Jahre bevor ich den Roman beendete. Ich hatte zu viel Angst davor, mit diesem Roman zu beginnen, und schrieb vorher zwei andere Bücher.“
Kein Wunder: Dieses verwinkelte australische Epos dreht sich um die Frage, wer wen wie und warum wahrnimmt, und vor allem aber um: den Australier Simon:
Einst, zu Collegezeiten, war Simon ein Idealist und Romantiker, in Literatur und Musik bewandert und wusste damit Anna, seine Freundin, zu bezaubern. Doch das ist 10 Jahre her. Simon hat seinen Job als Grundschullehrer verloren, kippt verbittert und weltabgewandt jeden Abend ein Glas Scotch und liest Lyrik. In Anna ist er immer noch verliebt, doch sie hat mit einem anderen Mann längst ein Kind. Als Simon erfährt, dass Anna eine Affaire hat, bildet er sich ein, Annas kleinen Sohn vor der kaputten Familie retten zu müssen und entführt ihn. In sieben Kapiteln erzählen sieben Figuren die nun folgende, fatale Kettenreaktion aus ihrer Sicht.
„Das ermöglicht einen recht konkreten Blick auf die Mehrdeutigkeit menschlicher Beziehungen. Als Anwalt hat mich das interessiert, schließlich habe ich bei Zeugenvernehmungen oft unterschiedliche Interpretationen davon gehört, wie Menschen ihre Beziehungen zueinander sehen!“
Daher der englische Buchtitel, „seven types of ambiguity“, Verweis auf ein gleichlautendes Konzept aus den 30er Jahren: Der Lyriker William Empson untersuchte, wie Poesie uns gerade durch Mehrdeutigkeiten im Wortgebrauch fasziniert – was Perlman in seiner Prosa gerade nicht unternimmt, weshalb der geborgte Titel in die Irre führt. Herausragend ist Perlmans Kniff, dass Figuren ihre Geschichten anderen erzählen. Der Leser begreift oft erst durch dezent gestreute Hinweise, wer wen anspricht. Schade nur, dass die sieben Stimmen genau gleich klingen.
„Einige amerikanische Kritiker haben meinen Roman mit Akira Kurasawas Film ‚Rashomon’ verglichen, in dem eine Vergewaltigung vom Opfer, vom Täter und vom Ehemann erzählt wird. Der Vergleich schmeichelt mir, stimmt aber nicht ganz. Bei mir erzählen die Figuren jeweils unterschiedliche Teile der Geschichte, und nur manchmal werden Szenen mehrfach beschrieben, und dann in unterschiedlicher Sichtweise.“
Echte Widersprüche muss der Leser also nicht auflösen, sondern wird nur Zeuge von Streitigkeiten. Andererseits kommt die verschlungene Geschichte voran. Simon wird als Kindesentführer angeklagt. Geistesgegenwärtig behauptet er, er habe Sam betreuen sollen, das habe ihm Anna erlaubt, mir der er eine Affaire habe. Soll Anna diese Lüge vor Gericht stützen, um Simon vor dem Gefängnis zu retten – und damit ihre eigene Ehe zerstören? Ambivalente Charaktere bevölkern den Roman: doppelzüngige Prostituierte, korrupte Polizisten und verschlagene Finanzanalysten. Ziemlich modisch wirkt hier Perlmans Versuch, damit en bloc allerlei Expertenwissen über Glücksspieltaktiken und den Aktienhandel unterzubringen. Sogar eine wütende, aber auch ein wenig flache Attacke Simons gegen Jacques Derridas hyper-relativistische Philosophie der Dekonstruktion fehlt nicht.
„Ja, ich teile Simons Abscheu vor diesem ganzen Derrida-Zeug. Es ist totaler Nonsens, zu behaupten, wir verstünden uns überhaupt nicht. Natürlich tun wir das, wir sprechen doch ständig miteinander. Wenn kein Wort eine definitive Bedeutung hätte, wie verstünden wir denn dann, was die Dekonstruktivisten sagen!? In den USA, England und Australien haben sie die Institute für Literaturwissenschaft geradezu kolonisiert. Das ist barbarisch!“
Oft tarnen sich endlose Monologe als vorhersehbare Dialoge mit Zwischenfragen. Kürzung hätte hier manches Mal gut getan. Denn Simons Gerichtsprozess trägt den Roman nicht so sehr wie die einzelnen Glanzlichter: eine wirklich ergreifende Geschichte von plötzlichem Kindstod beispielsweise, eine realsatirische Einlage über telefonsüchtigen Finanzanalysten auf einem Motivationsseminar in den Bergen ohne Handyempfang, die Schilderung von Simons brutalen Zellengenossen. Sympathisch bleibt, dass Perlman das marode Justizsystem und die neoliberale Gesundheitspolitik in Australien offen anklagt. Ob so vieles in einen Roman hinein muss, bleibt am Ende wohl eine Geschmackssache.
„Ich will Bücher schreiben, die ich selbst gerne lesen würde, so wie aus dem 19. Jahrhundert, dem goldenen Zeitalter des Romans mit Charles Dickens und Thomas Hardy. Diese Literatur zeigt uns, in was für einer Welt wir leben. Anscheinend schreibt niemand heute mehr so. Aber warum sollte ich Angst davor haben, soziale Fragen anzugehen?“
(für NDR Kultur)