Jahrtausendelang hat der Mensch selbst geschrieben und gelesen. Doch er bekommt Konkurrenz vom Computer: Der textet selbst mit und liest im weltweiten Internet als Suchmaschine gigantische Textberge durch, auf einem Trägermaterial, das das menschliche Auge nicht mehr entziffern kann. Wer sieht schon Zustände auf Chips mit dem bloßen Auge? Dankt der Mensch als Subjekt der Schriftkultur ab? Henning Lobin ist Professor für Angewandte Sprachwissenschaft und Computerlinguistik an der Uni Gießen und versucht eine Antwort.
Ein Händchen für Schlagworte und prägnante Szenen hat Henning Lobin zweifelsohne. Nach dem Zeitalter des Buchdrucks, der Gutenberg-Galaxis, stehe nun die Engelbartgalaxis an, benannt nach dem amerikanischen Entwickler Douglas Engelbart. Der schaltete Ende der Sechziger Jahre in einer berühmten Präsentation in Kalifornien einen grünen Bildschirm, eine Maus und mehrere Computer zusammen. Jetzt kommt eine Zeitenwende.
„Douglas Engelbart war deshalb so visionär, weil er sich als erster überhaupt vorgestellt hat, dass wir mit Computern richtig zusammenarbeiten. Bis dahin war das völlig anders, da war der Computer ein riesiger Kasten, mit dem man über Fernschreiber kommunizierte und wo man teilweise Stunden auf die Ergebnisse warten musste…“
Ein Schlüsselmoment: Der „User“ ist geboren. Er verwächst mit einem PC, der verschiedene Datenformate multimedial bündelt und sogar mit anderen Rechnern vernetzt werden kann. Hier liegen die Urgründe für alles, was unser Smartphone-Zeitalter ausmacht. Vor allem aber dafür, dass zum ersten Mal ein anderer als der Mensch mitliest, mittlerweile ständig: Suchmaschinen sind letztlich gigantische Leseknechte. Und bald würden wir ohne Computer gar nicht mehr lesen können, vermutet Lobin, der ein Sammelsurium von atemberaubenden Entwicklungen zusammengetragen hat, zum Beispiel: Eyetracker verfolgen unsere Blicke und heben automatisch Wörter auf dem Bildschirm hervor. Längst schreibt der Computer auch mit: Schon seit der Texterkennung in älteren Handys.
„Das geht immer weiter: Es kann ein Wort vervollständigt werden, es kann ein nächstes Wort eingeblendet werden, all das geschieht auch mit entsprechenden Programmen, ein nächster Schritt ist der, das ganze Formulierungen ergänzt werden, bis hin zu ganzen Texten, die durch den Computer […] erzeugt werden.“
Programme verfassen Sportreportagen aus Statistiken von Baseballtabellen oder Artikel aus Wirtschaftsdaten. Eingefleischte Technik-Freaks mögen Vieles kennen, was Lobin in einfacher, doch packender Sprache beschreibt. Aber als Geisteswissenschaftler kann der Autor darüber hinaus eine notwendige historische Tiefe liefern. Im Grunde, so Lobin, gab es zum Beispiel das soziale, gemeinsame Lesen schon in den Lesegesellschaften vergangener Jahrhunderte. Das digitale Lesen spiele trotzdem in einer anderen Liga.
„…weil wir bislang zwar gleichzeitig lesen konnten, aber immer gezwungen waren, das miteinander zu koordinieren. Man musste sich zusammensetzen, und eigentlich war das Lesen trotzdem eine individuelle Tätigkeit.“
Via Textmarkierung in Ebooks lesen heute Menschen weltweit fast ohne Zeitverlust zusammen. Besonders interessant wird es, wenn Lobin die Institutionen herausarbeitet, welche die Kultur der materiellen Schrift einst hervorgebracht hat: eine gewisse „Heiligkeit“ des Buches, das in seiner Herstellung teuer war; die daraus folgende Autorität von statischen Texten; die Wichtigkeit, zu publizieren; das Urheberrecht und so fort. Alle diese Institutionen wanken heute. Wo Computerfreaks das neue Zeitalter unkritisch bejubeln, verdeutlicht Lobin die geschichtliche Dimension dieses Einschnitts, ohne jedoch in resignativen Kulturpessimismus zu verfallen.
„Wir befinden uns in dieser Umbruchssituation, und es ist einfach nicht ausgemacht, in welche Richtung sich das System der Kultur entwickeln wird!“
Manchmal beschränkt sich der Autor leider darauf, Fragen zu stellen: Etwa, ob Bibliotheken noch Lesesäle brauchen? (Oder wie sie Ebooks archivieren sollen.) Gewöhnungsbedürftig scheint auch die verfochtene Evolutionstheorie der Kultur: Bestimmte Inhalte oder Praktiken setzten sich automatisch durch. Was schlicht bedeutet, dass der Mensch die Digitalisierung kaum steuern kann. Henning Lobin erschrickt davor selbst ein bisschen und kann sich staatliche Interventionen vorstellen:
„Ich glaube, dass wir in bestimmten Bereichen zu einem Punkt kommen werden, wo wir uns fragen, ob der Staat in Gestalt von öffentlich-rechtlichen Einrichtungen, die einen kulturellen Auftrag verfolgen, einsteigen sollte.“
Konkret: Öffentlich-rechtliche Verlage und eine staatliche Suchmaschine, sozusagen ein GEZ-Google. Aber liegt da nicht das nächste Überwachungsgespenst?! So bleibt das ein aufschlussreicher Wissenschaftsschmöker, der zwar den aktuellen Stand digitalen Lesens und Schreibens gut recherchiert zusammenfasst, der aber – wie wir alle – fasziniert, doch letztlich auch nur begrenzt in die nahe Zukunft blicken kann.
Henning Lobin: Engelbarts Traum. Wie der Computer uns Lesen und Schreiben abnimmt. Das Buch ist im Campus Verlag erschienen, hat 281 Seiten und kostet 22 Euro 90.
Für SWR2, Buchkritik.