Als die Schriftstellerin Joyce Carol Oates 1984 nach Princeton zog, begann sie einen Roman zu übernatürlichen Heimsuchungen in der elitären Unistadt. Jahrzehntelang blieb das Material liegen. Nun ist daraus ein Buch geworden: Die Verfluchten!

Soeben hat die liebliche Annabel Slade ihrem Verlobten Dabney Bayard das Jawort gegeben, Anfang Juni 1905 in der presbyterianischen Kirche in Princeton; da hört sie ein Flüstern und wandelt lüstern wie hypnotisiert, einer Mischung aus schwarzem Mann und Kröte zu, die sie direkt vom Altar weg entführt. Realität oder kollektiver Wahn? Diese Frage wird sich bis zum Schluss nicht klären lassen.

„Genau damit quält und ängstigt uns der Teufel nämlich: Sind wir ihm verfallen oder bloß befangen in kindischen Hirngespinsten?“

…fragt sich ein gewisser Herr van Dyck, der Jahrzehnte später als Hobbyhistoriker Tagebücher und Zeitzeugenberichte der Beteiligten aufarbeitet und erzählt, was die Princetoner, insbesondere die alteingesessene Familie Slade ein Jahr lang quälen wird: ein mysteriöser Fluch, dem einige zum Opfer fallen, einige entrinnen werden, konkret: Heimsuchungen von übernatürlichen Wesen und Rasereien der Bevölkerung. Joyce Carol Oates schöpft hier aus dem vollen Schauerreservoir: verwunschene Häuser, Dämonen mit sexuellem Subtext, versteinerte Jünglinge, verrückte Selbstmörder, Geistermädchen, draculaartige Schlossherren. Aber auch Mütter, die ihre Babys erschlagen möchten, und ein mörderischer Ventilator.

Einen gruseligen Leserausch sollte der Leser jedoch nicht erwarten, eher ein ironisches Spiel mit Genre-Motiven; denn Oates bricht die Atmosphäre immer wieder bewusst und lässt ihren Erzähler übereifrig die Quellenlage reflektieren.

„Aber ich bin besorgt, wenn ich mir das vorherige Kapitel anschaue – denn hier fehlt so vieles, was von Interesse, ja, sogar entscheidend dafür sein könnte, dass der Leser den ganzen Zusammenhang versteht.“

Zudem verliert sich Oates im ungebremsten Namedropping, etwa von Dickens, Nietzsche, Marx. Außerdem treten echte Berühmtheiten auf, wie der Schriftsteller Upton Sinclair, der inmitten der Ostküstenaristokratie mit dem Sozialismus liebäugelt. Häuser werden immer samt ihrer ganzen Erbauungsgeschichte beschrieben; bei Tagebuchaufzeichnungen von Ehefrauen folgt der Leser fast in Echtzeit allen falschen Mutmaßungen, bis das nächste Diner zumindest halbe Wahrheiten bringt. Wo ist der rote Faden? Er ist in der Tat schwierig zu finden, denn Oates geht leider ausnahmslos jedem Einfall nach.

„Der New-Jersey-Teufel […] ist ein über zwei Meter großer Raubvogel oder ein Reptil mit langem Hals, sehr langem spitzen Schnabel und scharfen Krallen.“

…heißt es in Fußnoten über regionale Legenden. Man braucht also ein wenig Leseatem: für den permanenten Erzählerwechsel ohne echte Hauptfigur und für die elegisch-blumig-bösen Passagen, die Silvia Morawetz mit fulminantem Wortschatz treffend übertragen hat. Und doch werden wir mit einem tiefschwarzen Finale belohnt. Ohne zu viel zu verraten: Hier offenbart Familienpatriarch Winslow Slade in alttestamentarischem Tone ein dunkles Geheimnis, das erklärt, woher der Fluch kam, das aber auch die Umwertung aller Werte zur Folge haben wird.

„Denn meine Brüder, Sündhaftigkeit, Zwietracht und Entsetzen sind es, die die Menschen zu Gott führen mit ihren zerbrochenen Seelen, mit Furcht vor seiner Grausamkeit und Angst vor dem Schlund seiner Hölle […].“

Das schreibt Slade, der selbst Priester ist!

„Denn wisset, dass wir, seine Vertreter, in höchsten Ehren stehen, wenn wir Zwietracht predigen mit dem Vokabular der Liebe, und dass wir ihm gefällig sind, wenn wir von Armageddon spreche […].“

Erst jetzt zeigt sich die Leistung des Buches, das Horror nicht als Selbstzweck anstrebt, sondern in ihm die dunklen Seiten der Menschen konkretisiert: Es treten Priester auf, die Lynchmorde an Schwarzen ignorieren; Elitestudenten, die von Kameradschaft schwafeln und sich Sklaven halten; Protestanten, die Neu-Immigranten ausbeuten; snobistische Ostküstenfamilien, die vom angeblich klassenlosen Amerika nichts wissen wollen, aufrechte Demokraten, die Frauen für vernunftlose Wesen ohne Wahlrecht halten.

Diese seelischen Abspaltungen zeigt Oates ausdrücklich in Woodrow Wilson, späterer US-Präsident und in diesem Buch noch Uni-Präsident von Princeton. Er ist eine zentrale Figur in der Geschichte.  In ihm kritisiert Oates die allzu positive Selbstsicht der Amerikaner auf ihre Geschichte. Eine Alternative zu diesem Abgrund an Rassismus, Kapitalismus, Sexismus fehlt freilich: Eine sozialistische Holzhütten-Kommune, in die sich die Überlebenden des Fluches am Ende flüchten, brennt irgendwann ab.

Ein tiefschwarzer, postmoderner Mashup zwischen Historie, Gothic novel und amerikanischer Seelenschau.

Joyce Carol Oates: Die Verfluchten wurde von Silvia Morawetz übersetzt und ist bei S. Fischer erschienen. 752 Seiten kosten 26 Euro 99.