Subjektivität kann eine höhere Form von Wahrheit abbilden als die brave Nachrichten-Objektivität. Das können wir von John Jeremiah Sullivan lernen.
Nein, die Recherche über ein christliches Rockfestival könnte in der Tat besser laufen. John Jeremiah Sullivan will im Internet mehrere Jugendliche einladen, mit ihm zusammen im Wohnmobil dorthin zu fahren – und wird prompt als Pädophiler verdächtigt. So mietet er schließlich allein ein verranztes Gefährt.
„Der Innenraum roch nach verdorbenen Ferien und Amateurpornodrehs, eingewickelt in Motelduschvorhänge und in die Sonne gelegt. Einen Augenblick lang stand ich wie erstarrt auf der Schwelle. In diesem Wohnmobil war Jesus nie gewesen.“
So fährt er los und wird sie alle treffen, die jungen Christen: manche punkig, andere riechen nach Trailerpark, wieder andere blass und traurig in antimodischer Kleidung. Bände sprechende Details zeichnen die Reportagen des 1974 geborenen Magazinjournalisten aus, einige seiner besten aus den Jahren 1999 bis 2011 hat er im Band „Pulp pead“ versammelt. Elegant lässt der Autor immer wieder pointierte Passagen der Reflexion einfließen; zum Beispiel analysiert er den Christenrock als parasitäre Subkultur, die den echten, weltlichen Rock imitiert, aber stets eine christliche Botschaft liefert, welche das Publikum längst verinnerlicht hat. Bevor es zu trocken wird, streut Sullivan gerne mal Irritierendes ein, was die Texte besonders frisch macht.
„Ich habe eine schwarz-weiße Katze mit schwacher Blase, und diese Katze hatte auf meine Fliege gepinkelt, also trug ich nur eine schwarze Krawatte zum Smoking.“
In einer Geschichte über Disneyworld ist der schiefe Blick sogar Programm, weil Sullivan erkundet, wie er und ein Freund an einem solchen braven Ort unbemerkt Joints rauchen können. Die meisten Schauplätze freilich sind die abgelegensten Winkel der USA; nur so ist der etwas schief übersetzte Untertitel „Vom Ende Amerikas“ zu verstehen: Vergessene Südstaatenliteraturgenies in Hütten, abgehalfterte Reality-TV-Stars in Kleinstadtdiscos, geplünderte Indianergrabhöhlen. Vier bis fünf Monate strickt Sullivan an seinen Werken, immer bietet er selbst bei den medial durchgekautesten Themen noch neue Zugänge.
„Wie sonst kann man über Michael Jackson reden, als dass man Prince Screws erwähnt? Prince Screws war Sklave auf einer Baumwollplantage in Alabama.“
…und Michaels Großvater, heißt es in einem Porträt des Mannes, über den alles gesagt schien. Es sind gelungene Grenzgänge zwischen Essay, Kurzgeschichte und Reportage, die Sullivan ehrwürdige Vergleiche eingebracht haben. Aber Sullivan ballert weder im Ton drauflos wie Hunter S. Thompson, noch schreibt er Endlossätze wie David Foster Wallace, und die Schönen und Reichen, wie bei Tom Wolfe, sind meistens nicht Thema. Dennoch kann er sein Land meisterhaft charakterisieren, etwa in einem Text über Reality-TV:
„Es gibt einfach zu viele von ihnen, zu viele Sendungen und zu viele Leute in diesen Sendungen, als dass sie uns nicht etwas Grundlegendes über uns selbst verraten würden. Das sind wir: ein Volk gefühlsduseliger Barbaren, weinend und Gewichte stemmend.“
Die konsequente Ichperspektive fasziniert am meisten. Sullivan räsonniert darüber, dass auch er ein Reality-TV-Fan war, dass er eine christliche Jugendphase hatte, geht gar an die selbstexhibitionistische Schmerzgrenze, wenn er erzählt, wie sein älterer Bruder einen Stromschlag erlitt, ins Koma fiel, aufwachte und wirres Zeug redete. Warum es keinen John Jeremiah Sullivan in Deutschland gebe, fragte sich mancher Kritiker schon. Die Antwort ist einfach: Weil man hierzulande Objektivität mit dem Weglügen der eigenen Position verwechselt und literarische Formen als Kulturquatsch gelten. Schade, beweist Sullivan doch, wie gut solche Texte sein können – nicht, obwohl, sondern weil er sich auch das Scheitern seiner Journalistenrolle eingestehen kann.
„Als Disney World gebaut wurde, verkörperte es eine weithin geteilte Idee von Amerika als einer reinen kapitalistischen Fantasie. Diese Idee vermittelt es heute nicht mehr; die Idee ist nicht mehr verständlich. Ich weiß nicht, was es heute vermittelt. Die alten Werte sind verloren, die neuen nicht identifizierbar.“
An anderer Stelle fühlt Sullivan sich gegenüber den Lesern schuldig, weil seine Protagonisten nicht „kaputt genug“ waren. Und eine Geschichte ist sogar größtenteils erfunden. Wohl kalkulierte Kunstgriffe: Indem Sullivan seine Subjektivität einbringt, gelingt ihm eine höhere, sinnliche, spannende Objektivität.
John Jeremiah Sullivan: „Pulp head. Vom Ende Amerikas“ wurde von Kirsten Riesselmann und Thomas Pletzinger ins Deutsche übersetzt. Der Band ist bei Suhrkamp erschienen, hat 298 Seiten und kostet 20 Euro.
(für die SWR2 Buchkritik)