Eva Menasse legt mit „Quasikristalle“ einen Roman vor, der das Leben der Hauptfigur Xane Molin aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Dabei bezieht sich der Romantitel auf ein Phänomen, das 1982 entdeckt und 2011 mit dem Chemie-Nobelpreis gewürdigt wurde.
Der isrealische Physiker Daniel Shechtman hatte gezeigt, dass Kristalle nicht nur in starrer, wohlgeordneter Form bestehen können, also wie Honigwaben umgeben von sich selbst ähnlichen Muster, sondern auch in aperiodischer, lückenhafter Form vorkommen: Muster umgeben ihnen unähnliche Muster. Im übertragenen Sinne ist das bei Xane Molin auch so: Sichtbar wird sie erst durch den changierenden Blick der anderen.
Als Daniel Shechtman die Quasikristalle entdeckte, wurde er zunächst von Fachgrößen als Quasiwissenschaftler beschimpft. Erst spät, mit dem Nobelpreis, rückte er vom Rand ins Zentrum der Wissenschaft. Ein ähnliches Spiel betreibt Eva Menasse mit ihrer Hauptfigur Roxane, genannt Xane, Molin: 13 Kapitel umkreisen dieses Leben zwischen Berlin, Wien, London und der Provinz. Mal steht Xane im Zentrum, dann taucht sie als Nebenfigur oder nur von Ferne gesichtet auf. So beschreibt Eva Menasse ein ganzes Leben vom Teenager- bis ins Seniorenalter und unterläuft die drohende Langatmigkeit einer starren Chronologie. Die Autorin bemerkte erst spät, dass die Underdog-Geschichte von Shechtman eine treffende Metapher für ihre Ästhetik bereithielt. Da hatte sie den Roman schon zur Hälfte fertig, wusste aber immer noch keinen Titel:
„Erst nach ein paar Wochen, als ich wieder jemandem diese Quasikristalle-lustige-Nobelpreis-Geschichte erzählte, dachte ich: Hey, das passt doch als Metapher eigentlich verdammt gut zu dem Buch, das Du da gerade schreibst. Ich war davor immer am Experimentieren mit Begriffen wie Mosaik und Kaleidoskop, aber eigentlich war mir das alles zu abgegriffen. Quasikristalle hat auch so etwas schön Schrilles als Titel… Ich glaube, dass wir alles, was wir vom Anderen sehen, durch einen immensen Filter ziehen. Der aus Voraussetzungen unseres Charakters besteht, aus dem, was wir schon für Erfahrungen mit anderen Menschen gemacht haben.“
Was abstrakt klingt, erweist sich als sinnliche Lektüre. Wir erleben Xane aus den Augen ihrer Teenagerfreundin Judith, mit der sie zusammen unterschwellig grausam ein drittes Mädchen mobbt. Wir sehen sie als junge Studentin, die einem alternden Dozenten eine Auschwitz-Exkursion versüßt. Ein antisemitischer Wiener Vermieter wird aus ihr nicht schlau, als sie eine subversive Filmemacherin wird. Oft ist Xane durchaus unsympathisch gezeichnet: Zickig aus den Augen ihrer Stieftochter Viola, als zweifache Beinahe-Ehebrecherin oder als kaltherzige Chefin einer PR-Firma. 13 Hauptfiguren mit eigener Stimme zu entwerfen, das klingt nach Arbeit.
„Ich würde kontern, dass ich ein sehr ungeduldiger Mensch bin und gerne Abwechslung habe. Das ist fast eine Art Drang, mich zu kostümieren und in den anderen hereinzuschlüpfen. Ich bin gern ein paar Wochen lang ein alter, leicht rassistischer Hausvermieter und gleich darauf eine junge Frau in prekären Lebensverhältnissen und überlege mir wahnsinnig gern, – das ist ein intellektueller Thrill – : Wie sehen die die Welt? Und wie unterschiedlich sind die?“
Beinhahe könnten diese lebensgesättigten Kapitel für sich alleine stehen. Eva Menasse hält sich nie mit langwierigen Erklärungen auf, sondern beherrscht die Kunst, in der erlebten Rede der Figuren ein Maximum zu implizieren und direkt ins Geschehen zu springen. Bald merkt der Leser, dass viele Anekdoten später aus anderer Perspektive umgedeutet werden. Xane Molin erscheint beispielsweise einerseits als verheiratet und arriviert, andererseits als oberflächliche Berliner Society-Party-Barbie. Wie ein Quasikristall lässt sich die Struktur dieses Lebens, ja, des Lebens überhaupt, wohl nicht auf eine einfache Formel bringen. Dabei erlaubt sich die Autorin – ohne Science-Fiction-Allüren – einen realistischen Blick in die nahe Zukunft, bis in Xanes Seniorenalter; nicht ohne Ironie berichtet eine Figur davon, dass das hippe Facebook längst untergegangen ist.
„Ich hab die Lebensdaten der Hauptfigur an meine eigenen angepasst, weil ich dann nicht so viel rechnen muss. Es ist reine Faulheit. Und wenn ich mir aber vornehme, das ganze Leben zu beschreiben und ich bin jetzt gerade erst Anfang 40 und meine Protagonistin soll 70 plus sein, dann muss ich in die Zukunft gehen. Nicht, um die Zukunft zu antizipieren, sondern um zu zeigen, dass die Zeit über uns drüber rollt, dass wir sie nicht aufhalten können, dass wir alle sterben werden.“
In dieser Zukunft sind Morde an teuren und pflegeintensiven Senioren an der Tagesordnung. Auf den ersten Blick könnte man meinen, Eva Menasse wolle zuviel: Auschwitz und zeitgenössische Massaker, Ehebruch, künstliche Befruchtung, PR-Agenturen zwischen Kommerz und Kunst…Aber nicht dieser Roman ist überfrachtet, sondern unsere hier sehr treffend beschriebene, zeitgenössische Lebenswelt.
„Wir lesen Zeitung, wir sprechen mit Menschen… Es ist durchaus denkbar, dass jemand an einem einzigen Tag mit all diesen verschiedenen Diskursen in Berührung kommt. Reproduktionmedizin, Vergangenheitsbewältigung – ist doch in Deutschland sowieso auf Schritt und Tritt unvermeidlich – , die Frage, wie wir mit den Alten und Dementen umgehen…Wir leben mit all diesen Diskursen, jeden Tag, wir streifen sie nur. Mein Buch versucht ja gar nicht, die irgendwie umfassend darzustellen, sondern nur zu zeigen, dass wir als Monade, die durch das eigene Leben treibt, dauernd in geringfügigem Maße mit ihnen in Berührung kommen.“
Paradoxerweise geben all die gebrochenen Blicke, widerstreitenden Ansichten, angerissenen Diskurse dem Text am Ende eine eigenwillige, vielleicht neuartige Kohärenz. Man schlägt dieses Buch zu und hat das Gefühl, eine Lebensbeichte und Biographie zugleich gelesen zu haben. Das Experiment mit den Quasikristallen ist gelungen!
Eva Menasse: Quasikristalle ist bei Kiepenheuer und Witsch erschienen. 432 Seiten kostet 19 Euro 90.
(für die SR2 BücherLese)