Es war eine Zahl, die Benjamin Skinner nicht mehr losließ, seit er diese seriöse Schätzung gelesen hatte. 27 Millionen Menschen schuften weltweit unter Androhung von Gewalt, erhalten gerade das Nötigste, um zu überleben, kurzum: sind Sklaven, obwohl das offiziell überall auf der Welt illegal ist. Damit gibt es heute mehr Sklaven als je zuvor in der Geschichte.
Skinner reiste in den Sudan, nach Moldawien, die Niederlande, Indien, Haiti, die arabische Halbinsel, insgesamt in elf Länder, aber auch nach Miami. Von dort brachte er erschütternde Geschichten von Zwangsprostituierten, Arbeitssklaven, Schuldsklaven oder feilgebotenen Kindern mit. Zugang zu den verborgenen Milieus erhielt er oft, indem er vorgab, selbst Sex- oder Arbeitssklaven kaufen zu wollen, etwa in Rumänien, wo er versucht war, ein Mädchen freizukaufen.
„Sie war klar erkennbar misshandelt worden. Sie hatte Narben an den Armen, sie hatte offenbar mehrfach versucht, sich umzubringen. Und sie hatte das Down-Syndrom. Um sie besser verkaufen zu können, hatte der Menschenhändler sie geschminkt. Aber sie weinte so heftig, dass das Make-up zerlief. Sie wurde mir im Tausch für einen Gebrauchtwagen angeboten. Ich hatte während meiner Recherchen ein durchgängiges Prinzip: Niemals für Menschen zu zahlen, weil ich sonst den Menschenhandel befördern würde.“
Ein Prinzip, dessen Berechtigung er im großen Rahmen bitter bestätigt fand, als er mit John Eibner, einem geradezu missionarischen Sklavereigegner der Organisation „Christian Solidarity International“ in den Sudan flog, um dort Sklaven freizukaufen. Sie entpuppten sich als „Darsteller“, angeworben von einer Rebellenorganisation, die das Lösegeld von Eibner gerne annahm, um damit Waffen zu kaufen.
Solche Widersprüche aufzuzeigen, erhebt das Buch über eine bloße Reportagesammlung. Leitmotivisch berichtet der Autor etwa über John Miller, den Sklavereibeauftragten der Bush-Regierung. Miller kapitulierte zunehmend, vor allem an der weltgrößten Demokratie, Indien.
„Indien hat mehr Sklaven als jedes andere Land. Aber für die USA ist Indien ein strategischer Partner in einer instabilen Region zwischen Pakistan und China. Verhängt man Sanktionen? Nicht, wenn die USA einen Atomdeal mit Indien machen. Miller hatte in Indien Schuldsklaven gesehen, die seit Generationen in einer Reismühle schufteten. Er trug das Condoleeza Rice vor. Am Ende wandte sie ihm den Rücken zu. Sie weigerte sich schlicht, Verantwortung zu übernehmen!“
Bittere Einblicke in die internationale Realpolitik sind das. Dabei bescheinigt Skinner der Bush-Regierung eine außerordentlich positive Bilanz. Und zeigt, was zum Engagement geführt hat: Nicht etwa ein prinzipielles Eintreten für die Menschenrechte, sondern der innenpolitische Druck von rechtskonservativ-religiösen Organisationen. Auch das belehrt, wie gering die Motivationskraft einer säkularen UN-Charta noch immer ist.
„Im Jahre 2003 hielt Bush eine Rede vor der UN und klagte Kinderprostitution und Sklaverei an. Viele Botschafter rückten nervös auf ihren Sitzen hin und her. Das ist gut! Viele meiner Freunde fragten mich ungläubig: ‚Bush hat etwas Gutes getan?‘ Ich behaupte: Ja, er hat mehr gegen die Sklaverei getan, als irgendein Präsident in der neueren Geschichte. Aber es gibt einen Einwand: Er hätte noch viel mehr tun können und sollen!“
Die Liste des Elends scheint endlos. Viele Blauhelmsoldaten etwa kaufen Sexdienstleistungen und befördern damit in ungekannter Weise den internationalen Menschenhandel. Skinner zitiert aus Chaträumen, in denen Soldaten die Bordelle in den Krisenherden weltweit diskutieren. Einer etwa beklagt sich fachmännisch über eine Moldawierin in Dubai, die ihren Sex-Appeal verloren habe und nur noch leer an die Decke starre.
An mancher Stelle arbeitet sich Skinner zu pflichtschuldig an der Geschichte der jeweiligen Länder ab. Manche Kürzung wäre möglich gewesen. Schließlich zeigen die sehr ausführlichen Einzelporträts deprimierend detailliert, was es bedeutet, ein Sklave zu sein. Seinen eigenen Optimismus behielt Skinner nur wegen der Erfolgsgeschichten, von denen er einige im Buch schildert: Indische Schuldsklaven zum Beispiel kauften mit einer eigenen Gewerkschaft Sklave für Sklave frei.
„Mit elf Milliarden Dollar könnte man alle Sklaven auf der Welt befreien und wieder in das gesellschaftliche Leben eingliedern. Elf Milliarden hört sich vielleicht nach einer großen Summe an, aber das geben die USA jeden Tag im Irak aus. Wenn wir das Ziel vor Augen behalten, können wir die Sklaverei vielleicht in einer Generation beenden!“
Benjamin Skinners Buch „Menschenhandel“ ist im Lübbe Verlag erschienen, hat 412 Seiten und kostet 19 Euro 90.
Rezensiert für die Buchkritik in SWR2.