Wo wurde aus einer sanftmütigen Sekte eine intolerante, machtversessene Religion? Der Literaturwissenschaftler Stephen Greenblatt malt äußerst farbig einen aussagekräftigen Kipp-Punkt des Christentums aus. Den historischen Überblick, den der Titel suggeriert, sucht man aber vergebens.
Der US-amerikanische Literaturwissenschaftler Stephen Greenblatt ist vor allem durch seine Methode des New Historicism bekannt geworden. Hier erhellt der Interpret literarische Texte vor ihrem historischen Hintergrund. Insbesondere das Werk William Shakespeares hat es dem Professor aus Harvard angetan, seine Werke sind Bestseller, zuletzt das Buch „Der Tyrann“, in dem er die Gewaltherrscher in Shakespeares Werk daraufhin untersuchte, was sie einem Amerika unter Trump sagen können. Sogar Angela Merkel las es im Sommerurlaub 2019 und verhalft dem Autor zu Popularität. Nun widmet sich Greenblatt einem ganz anderen Thema: Sein neues Buch heißt „Die Erfindung der Intoleranz. Wie die Christen von Verfolgten zu Verfolgern wurden.“
Und so ein Buch würde eigentlich in der Masse der Neuerscheinungen untergehen: Es beginnt mit einer Interpretation eines römischen Dialogs aus dem zweiten Jahrhundert, dem „Octavius“ von Minutius Felix. Das wäre langweilig, hieße der Autor dieses neuen Buches nicht Stephen Greenblatt. Er hat packende Werke zu Shakespeare, aber auch zum Mythos von Adam und Eva oder zur Renaissance geschrieben, und ungefähr so weit ist auch der historische Bogen, den der Autor dieses Mal spannt.
Der Dialog „Octavius“, so Greenblatt, stelle einen Kipp-Punkt in der Geschichte des Christentums dar: An seinem Anfang wirft ein junger Römer namens Caecilius einer Statue der Göttin Serapis eine Kusshand zu – und wird dafür von zwei christlichen Freunden getadelt: Sie akzeptieren diese Götzenverehrung nicht in ihrer Gegenwart.
Eben noch galt ein Nebeneinander vieler Religionen in Rom, eine Lust zum philosophischen Streit, der jedem seine Meinung über die letzten Dinge ließ; eine vornehme Skepsis, die Natur der Dinge vielleicht nie erkennen zu können. Eine solche Gesellschaft benötigte kein Amt für Orthodoxie, weil sie keine Staatsreligion hatte, die vorschrieb, wer wem in aller Öffentlichkeit huldigen durfte.
Nun jedoch bricht die neue Zeit an. Christen, wiewohl noch in auf- und abflauenden Wellen verfolgt, drängen sich bald in die Öffentlichkeit, verspotten die Vielgötterei erst, verdammen sie schließlich im Namen des Seelenheils aller. Anders als die Juden missionieren die Christen eifrig. Als sie schließlich toleriert und dann zur Mehrheit werden, ist mit dem antiken Quasi-Pluralismus Schluss, bis sich der christliche Furor ab der Renaissance langsam verflüchtigt.
Das ist alles in wenigen Strichen farbig und packend auf den Punkt gebracht. Insgesamt fehlt für das Ausufern nämlich der Platz – das Büchlein umfasst noch nicht einmal 150 Seiten und ist nur die Langversion eines Vortrags, den Greenblatt an der Goethe-Universität Frankfurt gehalten hat – und der klar erkennbar den zweiten Teil des Buches ausmacht.
Damals, 2013, ging es Greenblatt vor allem um das Werk „De natura“ des Lukrez, das eigentlich hätte untergehen müssen, weil seine materialistische, an Epikur geschulte Philosophie dem Christentum komplett widersprach. Demnach gab es nur Atome und deren Verbindungen, keine Götter, auch keine unsterbliche Seele, kein Paradies, keine ewige Verdammnis. Dass Einzelne ein solch subversives Werk bei seiner Wiederentdeckung 1417 bewahrten, das hatte mehrere Gründe: Da war der Respekt vor der Schönheit von Lukrez‘ Dichtung und der gelehrte Wille, alte Texte zu bewahren, egal, wie häretisch sie sein mochten.
Das brachte Greenblatt schon in seinem preisgekrönten Buch „Die Wende. Wie die Renaissance begann“ 2012 vor. Wenn er den Stoff recyclet, dann vermutlich, um erneut eines zu bekräftigen: Die Geschichte lehrt uns, vorsichtig mit moralischen Kriterien zu sein, wenn wir den Kanon festschreiben – was laut Greenblatt an den US-Unis mehr und mehr Usus wird.
2013, zur Zeit des Vortrags, hatte es in den Feuilletons die Debatte zum Monotheismus gegeben; Greenblatt unterschreibt im Fahrwasser dieser Diskussionen die These von der Gewalt legitimierenden und Gewalt stiftenden Funktion des Monotheismus allzu gerne, behauptet aber, erst das Christentum, nicht schon das Judentum, habe die Vorstellung einer absoluten, lückenlosen, reinen Lehre in die Welt gesetzt.
In einer Passage führt Greenblatt beispielsweise Fehldeutungen von Jesu Gleichnis zu Weizen und Unkraut auf dem Felde aus: Die irrige Interpretation, man müsse das Unkraut vorzeitig ausreißen, kostete tausende von Ketzern, Hexen und Häretikern das Leben. Eine interpretatorische Raserei, die mit Augustinus begann und bis zu Luther und Calvin weiterging. Der Protestantismus ist eben keineswegs pauschaul mit der Aufklärung gleichzusetzen…
Der Titel dieses Buches suggeriert eine historische Tiefe sowie einen kleinschrittigen Durchmarsch durch den Aufstieg und Niedergang des Christentums, dabei trägt Greenblatt hier 14-Meilen-Stiefel. So ist das Buch ein gewitzter Westentaschen-Schmöker, ein Schlaglicht-Scheinwerfer, populäre Geisteswissenschaft, wie es öfter auf dem Buchmarkt der Fall sein sollte – mehr aber auch nicht.
Stephen Greenblatt: Die Erfindung der Intoleranz. Wie die Christen von Verfolgten zu Verfolgern wurden. Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Tobias Roth. 144 Seiten kosten 12 Euro.
Für die SWR2 Lesenswert Kritik.