In „Andere Leute“ blickt Polens literarisches enfant terrible Dorota Masłowska auf eine Mélange aus Drogen, Ehebruch, Gewalt, Sexsucht, die für die zerrissene polnische Gesellschaft stehen soll.
Einmal mehr: Was für ein derber Ton! Dabei ist Dorota Masłowska erst 1983 geboren worden und war schon mit 18 Jahren in Polen berühmt: Während ihres Abiturs schrieb sie „Schneeweiß und Russenrot“, das sie in Polen kurz nach der Jahrtausendwende zum Shooting Star der Literatur machte. Es folgten zahlreiche wichtige Literaturpreise, zwei weitere ähnliche Bücher. Wild, anarchisch, authentisch kamen diese Geschichten zu Drogensüchtigen, Wohlstandsverwahrlosten, Gossenmenschen daher, und in ihrem neuen Roman legt die Autorin noch einmal nach.
So mancher deutsche Linksliberale versteht die Europafeindlichkeit einiger Polen nicht. Wer ist nur gegen diese grandiose Reisefreiheit für einen ganzen Kontinent? Vielleicht jemand wie Kamil, der ohnehin nie rauskommt, weil er erwachsen im Plattenbau bei Mutti mit wechselnden Stiefvätern leben muss. Ein junger Mann, der dealt, als Klempner schuftet und das wenige Geld, das übrig bleibt, für Drogen ausgibt. Die lassen ihn den Alltag vergessen und von einer Rapper-Karriere träumen. Kamil ist die Hauptfigur in Dorota Masłowskas neuem Roman „Andere Leute“.
Und das ist ein dichtes, ätzendes, schreiendes Werk voller zynischer Menschen. Über drei Tage begleiten wir die Figuren in deren tristem Dasein; ein Kammerspiel, nur ist die Kammer die Stadt Warschau, und oben leuchtet nicht der Mond, sondern das Logo vom Lidl vor dem Plattenbau.
Da also wohnt Kamil, der Protagonist, der bei einem Klempnerjob zur sexuellen Alltagsflucht für Iwona gerät, einer frustrierten Oberschichts-Ehefrau. Sie ist Xanax-süchtig, hat Brustimplantate und weiß, dass ihr Karrieristen-Ehemann eine Affäre hat. Wegen des gemeinsamen Sohnes aber bleibt sie bei ihm, resigniert.
Dieser Ehemann heißt Maciej, liebt sein SUV tatsächlich mehr als seine Frau und kutschiert widerwillig seine handysüchtige Teenager-Tochter aus erster Ehe herum. Den Druck im Job hält er nur mit eben jenen Drogen aus, die er ausgerechnet bei Kamil kauft. Hier schließt sich der Kreis einer kaputten polnischen Gesellschaft in nuce.
Alles driftet auseinander, alle sind einander „andere Leute“, so auch der Titel des Romans, alle haben ihre Fluchten, ob Koks oder Sex im Kino. Selbst die satellitenartigen Nebenfiguren sind innerlich zerrissen: Anetta, Kamils Freundin, ist gleichzeitig von Kamil angeödet und süchtig nach Sex mit ihm; ihre Mitbewohnerin Justa akzeptiert ihre eigene Homosexualität nicht.
Die Handlung gerät dabei zur Nebensache, manche Figuren versuchen die Trennung, andere suchen Nähe, am Ende schaut die Polizei bei Kamil vorbei. Egal! Es geht hier um eine verzweifelte Grundfrage, und die hämmert die Autorin uns gleich mehrfach ein. Warum dürfen die Guten gut sein, und warum müssen die Bösen böse sein? Die Antwort hat offenkundig mit Armut, unüberwindbaren gesellschaftlichen Grenzen, biographischem Ballast und Neurosen zu tun…
Kein leichter Stoff. Schon der Inhalt zwingt beim Lesen dieser dichten 160 Seiten zu Pausen, erst recht aber die Form. Irrwitzig kreativ auf allen Stilebenen zwischen Hochsprache und Ghettoslang, in Dialogform, Bewusstseinsstrom, Erzählung, Rap verfasst und übersetzt. So fragmentiert die Gesellschaft ist, so fragmentiert ist dieser Roman formell:
Eben noch spüren die Figuren „postkoitale Tristesse“, schon glänzt Warschau in der Ferne „wie Hundeklöten“. Höhepunkt dieser im Deutschen veritablen Nachdichtung ist es, wenn der souveräne Übersetzer Olaf Kühl Kamils inneren Rapgesang übersetzt. Er reimt „Schweiß“ auf „Spice“, „Pfütze“ auf „Bio-Grütze“.
So mancher der Bewusstseinsströme, insbesondere der Kamils, wird allerdings gerne zur politisch unkorrekten Hatespeech gegen, Zitat, „Mongos“, „Zigeuner“, Schwule. Die Autorin nimmt eben kein Blatt vor den Mund, um die Wut der Figuren fühlbar zu machen.
Komplett surreal und herrlich halluzinatorisch gerät es, wenn Figuren aus/von Werbeplakaten sprechen, Säuglinge in Kinderwagen, ein Karpfen, der Rotwein und auch Jesus – letzterer, freilich, in Checkersprache.
Wenn man genauer hinschaut, merkt man: Dorota Masłowska hat ihr eigenes Werk auch ein bisschen recycelt: Ehefrau Iwona erinnert mit ihrem Karmagewäsch an die verstrahlte New Yorkerin im vorherigen Roman „Die Reiherkönigin“. Und Anetta hat ein Bein in eben jenem provinziellen Polen, aus dem die Figuren in Masłowskas Erfolgsdebüt „Schneeweiß und Russenrot“ schon wegwollten. Trotzdem ist es schlicht bewundernswert: Mittlerweile ist die Autorin im wahren Leben Mutter, aber am Schreibtisch noch immer die Punkliteratin ihrer Abizeit. Eine Leseerfahrung wie eine grandiose, harte, dreckige Droge.
Dorota Masłowska: Andere Leute. Aus dem Polnischen übersetzt von Olaf Kühl. Erschienen bei Rowohlt Berlin. 160 Seiten kosten 18 Euro.
Rezensiert für die SWR2 Lesenswert Kritik.