Philipp Tingler nimmt die Kulturschickeria aufs Korn und liefert ein urkomisches, süffiges Gag-Feuerwerk ab, bei dem der Plot mitabgefackelt wird.

Der Endvierziger Philipp Tingler ist sicher alles, nur kein Langweiler: Er hat als Hochbegabter Ökonomie und Philosophie in St. Gallen, in London und Zürich studiert, über Thomas Mann promoviert und stellt mittlerweile im Schweizer Fernsehen Bücher vor. Partys und alle Festivitäten des Kulturbetriebs besucht er dem Vernehmen nach auch gerne – und im Übermaß. Das hindert ihn nicht, allerlei zu veröffentlichen: Rezensionen, Essays, Kolumnen für deutschsprachige Zeitungen, Magazine und Radiostationen ebenso wie Stilratgeber, Kurzgeschichten und Romane.

In ihnen geht es mit unverkennbarer Ironie oft um die gehobene Gesellschaft, etwa in Berlin-Zehlendorf oder in Zürich, und manches Mal seziert Tingler auch den Literaturbetrieb. In seinem neuesten Roman mit dem Titel „Rate, wer zum Essen bleibt“ nimmt der Autor Menschen aus dem Universitäts- und Kulturbetrieb unter die Lupe.

Philipp Tingler hat von jeher die oberen Schichten gnadenlos vorgeführt. Seine Bücher heißen „Schöne Seelen“ oder „Leute von Welt“, und das Personal dort behilft sich mit Pillendose, Flachmann und Therapeut durch die Fallstricke einer Welt der feinen Unterschiede. Mit seinem neuen Roman führt der Autor solche Sozialstudien fort, allerdings als hochgetaktete Pointen-Maschine.

Es geht um fünf aufeinander folgende Tage im Leben des mehr oder weniger arrivierte Paares Felix und Franziska. Felix ist – wie Philipp Tingler – ein bekannter TV-Literaturpapst; seine Frau Franziska eine Uni-Soziologin, die nach ewigem Siechtum im Mittelbau auf eine bald zu besetzende Professur spekuliert. Deshalb lädt man den Herrn Dekan Kühn und dessen Frau namens Schulz zum Abendessen ein und möchte bei „pot au feu“ die Stelle eintüten. Letzte Chance – oder ewiges Mittelmaß und midlife-crisis, das ist Franziskas panisch-perfektionistische Grundhaltung. Auftritt Conni Gold, alte Studienfreundin von Felix, Ex-Goldman-Sachs-Bankerin in New York, auf der Durchreise, oft auch auf Psychopharmaka und Alkohol, dennoch oder gerade deswegen eher undiplomatisch unterwegs und deshalb Franziskas Alptraum.

„»Uchh«, machte Frau Schulz, die offenbar eine Art Reflex vollzog, »ist die Finanzwelt nicht fürchterlich?« »Nicht ganz so fürchterlich wie Leute, die ihre Implantate mit Groupon-Gutschein bezahlen«, entgegnete Conni.“

Was an gegenseitigen Sticheleien am Rande der Katastrophe folgt, wirkt, als hätte man Yasmina Rezas „Der Gott des Gemetzels“ mit Stand-Up-Comedians besetzt. Allein die Vergleiche, die Tingler findet: Die trinkfeste Conni etwa hat die Leber „eines narkoleptischen mexikanischen Düngemittelpiloten“. Mit detailversessener Häme porträtiert Tingler das gesamte Milieu der linksliberalen Kulturschickeria:

Da ist der Dekan, der Phrasen drischt zur „Inflation der Sinn-Optionen“; seine prätentiöse Frau, die vom Uni-Workshop zum Schutz unkontaktierter Völker säuselt; überhaupt das ganze Selbstoptimierungs-Gedöns von buddhistischer Philosophie, Pferdetherapie, Dinkelfasten, Lululemon-Yogamatten, Partner-Beckenboden-Training, Herumstochern in der natürlich problematischen Kindheit – Tingler treibt das so weit, dass die Nervensäge Conni glatt zur Sympathieträgerin mutiert.

Eigentlich geht es um die hohle Distinktion an sich: An niemandem wird das so deutlich wie an Felix. Der belächelt Unternehmensberater, trägt aber wie sie italienische Anzüge und tiefseetaugliche Uhren. Er hasst die Millenials…

„Die sehen hier alle aus wie Gartenzwerge, dachte Felix, lebensweltlich privilegierte Zerowaster-Gartenzwerge, in veganen Turnschuhen an Grünkohlstrünken nagend.“

…und doch wird Felix im Café von der Bedienung auch für einen Hipster gehalten. Pot-au-feu und Ovolactolowcarb Cold Brew-Kaffee haben wohl eines gemeinsam: Beide Arten von Schnösel sind in erschöpfenden Distinktionsmustern gefangen, die Individualität nur vorgaukeln.

Und das erschöpft dann irgendwann auch, vor allem wegen einer leicht unglaubwürdigen Handlung, die nur als Vorwand für weitere Gags taugt. Ein kleiner Reigen von Besuchern marschiert in den folgenden Tagen durch das Haus und erduldet Connis gehässige Sprüche, als könne man diese Conni nicht einfach mal rauswerfen, auch, wenn sie zwischenzeitlich krank wird.

Es erschöpft ebenfalls, dass die Figuren doch alle relativ ähnlich klingen, gerade weil Tingler keine Situation auslassen möchte, um noch ein gedrechseltes, sarkastisches Bonmot loszuwerden… Wenn der Autor ihre Rede nicht plötzlich zu sprachlichen Antiquitätenhandlungen umfunktioniert, weil er Wörter wie „Bangigkeit“ einstreut – oder auch Formulierungen wie „mit sorglichem Blicke“. Oder wenn sich nicht gar ein märchenonkeliger Erzähler meldet:

„So weit Felix. Und wie war es Franziska indessen ergangen?“

Womöglich soll das die Ironie nach Art von Thomas Mann sein, die viele Rezensenten in Tinglers Büchern immer wieder erkennen wollen; ein bisschen deplatziert wirken diese Sätze trotzdem. Das gilt ebenso für die seltenen, innerlichen Passagen, etwa zum Thema Liebe.

„Denn die Liebe bleibt schließlich eine Gnade, sie hebt den Mangel des ganzen Verstandeswesens auf, sie sorgt für die Gleichgestalt von Weltform und Seelenform, schwimmende Harmonie im Meer der Erscheinungen. Ihre Kontemplation reinigt das Herz.“

Auch vom Schicksal ist einmal ehrfürchtig die Rede, ebenso aufblitzend eindringlich reflektieren Felix und Franziska ihre Verspießerung. Aber gerade, wenn sich das anhört wie etwa in Anke Stellings preisgekröntem Roman „Schäfchen im Trockenen“, folgt ein Gag, salopp, trocken oder respektlos, und man fragt sich: War da eine tiefgreifende Erkenntnis, oder zuckt Tingler als Autor vor der Tiefe zurück und flüchtet sich – ganz wie Felix – in die Ironie und parodiert feixend schlicht alles, als gäbe es nur Kitsch und heideggernde Möchtegern-Philosophen in der Welt, und es gelte, alles, alles durch den Kakao zu ziehen?

Autor und Figur scheinen sich manchmal verdächtig nahe; entfernt erinnert das an den durchaus edlen Hochmut, der in Tinglers frühem Buch „Ich bin ein Profi“ durchklang. Und wie schon vorherige Werke votiert dieses Buch ästhetisch für mehr Ironie und weniger Raunen in der deutschen Literatur.

„Felix war ein Schriftsteller, der seine Tätigkeit als Arbeit betrachtete und das Gewese, was manche Autoren um ihr Tun veranstalteten, nicht ausstehen konnte. […] Er referierte darüber, dass die zeitgenössische Literatur sich, obschon von Förderung eingehegt, an künstlerischer Gültigkeit zumeist nicht in die vorderste Linie stellen könne. Ihre Kennzeichen seien oft entweder die hermetischer Innerlichkeit oder mehr oder weniger klischeehafter Welterfassung; gerade darinnen mache sich das Problem der Abwesenheit von Geist und Ironie aufdringlich bemerkbar.“

Es ist wie Sartres „Geschlossene Gesellschaft“, nur auf Lachgas – und schade, dass viele tiefere Themen sehr in den Hintergrund gedrängt werden. Aber das ist wohl so gewollt, hat Tingler doch schon in „Schöne Seelen“, einem artverwandten Buch über die Züricher obere Gesellschaft und ihre Neurosen, dem Witz gegenüber der Handlung den Vorzug gegeben.

Dieses Gag-Feuerwerk ist in einzigartiger Weise espritreich, temporeich, pointenstark, nur leider fackelt es eben den Plot gleich mit ab.

 

Philipp Tingler: Rate, wer zum Essen bleibt. Erschienen im Schweizer Verlag „Kein und Aber“. 208 Seiten kosten 20 Euro.

Rezensiert für das SWR2 Lesenswert Magazin.