Maurice Messer ist ein jüdischer Überlebender, der sich im Zweiten Weltkrieg im einem polnischen Wald versteckt und Hühner geklaut hat, heute aber werbewirksam von seiner angeblichen Partisanenvergangenheit erzählt. Zusammen mit seinem Sohn Norman ist Maurice unterwegs, beide verstehen sich auf das Geschäft mit der Erinnerung. Maurice als Chef des Holocaust Memorial Centers in Washington, Norman als Boss der Firma Holocaust Connections. Auf ihren Missionen im Luxusflieger ist Maurice nie um flotte Sprüche verlegen.
„’Viehwaggons hatten wir schon. Von jetzt an ist erste Klasse angesagt, für die ganze Strecke.‘ Die Kunden erwarteten überdurchschnittliche Leistungen von den Messers, und die Holocausts Connections, Incorporated berechnete auch die entsprechenden Spesen.“
Die Reise geht dieses Mal nach Auschwitz. Dort umgarnen Maurice und Norman ein betuchtes jüdisches Mutter-Tochter-Gespann, um Spenden für das Museum zuhause zu erhaschen. Ein delikates Unterfangen, denn kürzlich hat Normans Tochter Nechama gegen die familiäre „Holocaustverkorkstheit“ revoltiert und ist ins christliche Kloster neben dem Vernichtungslager gegangen. Als Schwester Consolatia zu Kreuze ist sie der fleischgewordene Affront schlechthin für die Familie Messer, die sich für die jüdische Erinnerungskultur einsetzt. Gerne verspricht Maurice seinen Geldgebern nämlich moralische Integrität, Namensplaketten auf einer Sponsorenwand oder gar auf Ausstellungsstücken.
„Hören Sie mir zu – für fünf Millionen, wissen Sie, was ich Ihnen dafür geben kann? Den Viehwaggon! […] Denken Sie doch nur, was für eine Ehre! Den authentischen polnischen Eisenbahnwaggon!“
Eine Tierschutzorganisation kämpft gegen Pelzhandel und brennt darauf, das abgeschorene Haar der Häftlinge als Ausstellungsgegenstand zu sponsorn. Und über Krystyna, die Touristen durch die erhaltenen Gaskammern führt, denkt Maurice:
„Sie lieferte eine gute Shoah! Er beobachtete sie, wie sie unermüdlich ackerte, schon wie eine altgediente Nutte mit leerem Gesicht in den kontaminierten Raum dieser Baracke starrte…“
In diesem bitterbösen Roman bleibt niemand verschont. Krystyna, eine Polin, ärgert sich zum Beispiel insgeheim darüber, dass die Juden so viel prominentere Opfer seien als die Polen. Die Rentner aus der Stadt Auschwitz durchforsten unterdessen den Wald mit Metalldetektoren, immer auf der Suche nach altem Zahngold. Und die missionsbesessenen Nonnen im Kloster neben dem Lager wettern, die Juden hätten ihr christliches Kloster ja bitte finanzieren können.
Letztlich inszeniert der Roman seinen eigenen kleinen Historikerstreit und fragt, ob man Genozide vergleichen kann, ja, ob und wie eine Rangfolge aussehen kann. Und das treibt Tova Reich auf die Spitze. In Washington besetzen in der Mitte des Buches Aktivisten Maurice Messers Museum und verkünden:
„Alle Holocausts wurden als gleich geschaffen. […] Die Besetzung wird so lange fortgeführt, bis alle Holocausts gleich behandelt werden…“
Und dazu gehören die, die verübt wurden von Deutschen, Chinesen, Roten Khmers, Hutus, Serben, Türken. Nicht zu vergessen auch die, deren Opfer Afroamerikaner, Hopi-Indianer, Hiroshima-Kinder, abgetriebene Föten oder Rinder waren. Und so weiter.
Die faszinierend-abstoßenden Wortschöpfungen von Tova Reich kennen hier keine moralischen Grenzen. Maurice und seine Kollegen seien „Hohepriester“ des Holocausts, ja: „Holocaust-Gigolos“, und sie monopolisierten den „Erinnerungsmarkt“. Ihre Gegner, diese „Möchtegern-Holocaust-Opfer“, verspürten „Holocaust-Neid“ und betrieben deshalb „Holocaust-Hijacking“. Für Maurice Messer ist das kein Grund zur Sorge: Die Juden gewönnen den „Holocaust-Wettbewerb mit links“, sagt er einmal.
Menschen ohne Sinn für Polemik mögen meinen, das alles spiele Holocaust-Leugnern in die Hände, weil doch diese jüdische Autorin selbst vom „Holocaust-Overkill“ schreibe. Leider wird von der Verlagswerbung auch ein Schlüsselroman suggeriert, indem sie hervorhebt, Tova Reichs Mann habe selbst jahrelang das Holocaust Memorial Museum in Washington geleitet.
Aber hier herrscht kein Realismus. Es ist eine wuchtige Satire, nicht über den Holocaust, sondern über ein pietätloses Erinnerungsmarketing, und das klagt dieser ziemlich tabulose Roman als eigentlichen Tabubruch an.
Deutlich wechselt der Roman am Ende die Tonlage, wenn Schwester Consolatia betet: Niemals möge ihr Entsetzen über den Völkermord nachlassen. Eine Ermahnung zu Respekt und nie ermüdendem Mitgefühl gegenüber dem Leid der Opfer, das scheint die unerwartete politisch korrekte Botschaft.
Leider sind die Stimmen der Figuren ansonsten kaum zu unterscheiden – alle zeichnen sich durch Chuzpe und Scheinheiligkeit aus. Man liest das Buch wegen seiner satirischen Detailwut, nicht wegen der Handlung. Die dient oft nur als Vorwand für erheiternd respektlose, aber seitenlange Reflexionen der Figuren.
„Mein Holocaust“ von Tova Reich wurde übersetzt von Silvia Morawetz und ist in der Deutschen Verlags-Anstalt erschienen. 331 Seiten kosten 21 Euro 95.
Rezensiert für die „Buchkritik“ auf SWR2.