„Alle, alle lieben Dich“ erzählt vom Verschwinden einer jungen Frau. Treue O’Nan-Leser mögen so etwas schon vom Roman „Abschied von Chautauqua“ kennen und wissen, dass sie kaum ein spektakulärer Thriller erwartet. Tatsächlich geht es dem Autor eher darum, wie die Familie der Vermissten, wie die ganze Stadt mit dem Verlust umgeht. Pascal Fischer hat mit dem Autor in seiner Heimatstadt Avon in Connecticut gesprochen.

Die 18jährige Kim Larsen ist eine normale High-School-Absolventin im ländlichen Ohio. Vor allem aber ödet sie das Kleinstadtleben an, die Langeweile zwischen Fastfoodrestaurant, Shoppingmall und der Tankstelle, an der sie sich ein wenig Geld verdient. Ansonsten schlägt sie die Zeit mit ihrem Freund oder ihrer Clique tot und sehnt die Collegezeit nach den Ferien herbei. Als sie von einem Tag auf den anderen plötzlich verschwindet, vermuten Eltern und Freunde schnell ein Verbrechen.

Stewart O’Nan hat ähnliche Motive schon in früheren Büchern umkreist, aber spielt das erst hier komplett durch. Auslöser war ein Erlebnis als Jugendbetreuer in einem Feriencamp. Die Polizei weckte ihn nachts, um nach zwei vermissten Jungen zu suchen, erzählt er.

„Wir zogen uns an und gingen auf die Suche. Dieser Moment hat mich nicht losgelassen: Mitten in der Nacht dort draußen zu sein, auf der Suche nach jemandem, den Du vielleicht gar nicht finden willst, diese Hoffnung, nicht das Schlimmste sehen zu müssen. Seit zehn Jahren habe ich versucht, dieses Buch zu schreiben. Ich habe es viele Male versucht.“

O’Nan zeigt, wie betäubend, quälend, richtungslos Suchaktionen ohne jegliche Spur sein können. Wie unmotiviert die Polizei ans Werk geht. Und wie ambivalent Solidaritätskundgebungen ausfallen: Bei einem örtlichen Baseballspiel etwa legen alle Besucher eine Schweigeminute ein, und dann ertönt plötzlich „Over the rainbow“ aus den Boxen. Die Erinnerung an die einzigartige Kim verschwindet geradezu hinter einem abgedroschenen Lied. Stewart O’Nan:

„In meinen Büchern konzentriere ich mich darauf, wie nötig und gleichzeitig unmöglich es für Menschen ist, mit anderen Menschen in der Gemeinde Beziehungen einzugehen. Und ich schreibe über die Institutionen, die in solchen Situationen helfen oder eben nicht. Es gibt Klischee-Reaktionen, wenn alle sich engagieren. Führen diese Veranstaltungen für Kim zu mehr Verständnis der Menschen untereinander? Nicht unbedingt. Die Familie bleibt ziemlich allein.“

Trauer kann vereinen, aber auch entzweien. Oberflächliche Romane würden sich hier für ein Szenario entscheiden. Nicht so Stewart O’Nan, der zeigt, wie jedes Familienmitglied zwischen beidem schwankt und damit fragt, wie gemeinschaftlich Trauer überhaupt sein kann. Kims jüngere Schwester Lindsay etwa möchte sich am liebsten abschotten und spürt gleichzeitig, dass ihre Mutter wünscht, dass sie weinen würde, wenn die Mutter ebenfalls weint.  Stewart O’Nan führt aus:

„Natürlich liebte Lindsay ihre Schwester Kim und vermisst sie. Sie ist hin- und hergerissen. Sie erkennt auch, dass niemand sich an die echte Kim erinnern möchte. Vielleicht war sie eine ärgerliche Person, aber niemand will sich so an sie erinnern. Sie denken alle nur an diese wundervolle Ikone. Das ärgert Lindsay. Sie will da ungern mitmachen. Kim bekam immer alle Aufmerksamkeit, und nun wird das immer so bleiben. Lindsay wird dann eine Art Beigabe zu Kim. Das verletzt sie sehr.“

Stewart O’Nan erzählt über einen Zeitraum von zwei Jahren, und das rückt die wahren Probleme erst ins Blickfeld. Kims Freund etwa bandelt bald mit einem anderen Mädchen an. Ist das nun Verbundenheit in der Trauer – oder Betrug? Soll er Kim wie eine Verschwundene, oder wie eine schon Tote behandeln? Soll er sein Leben anhalten, bis es Klarheit gibt? Alle taxieren sich untergründig gegenseitig in diesem Buch. Überhaupt verläuft ein recht amerikanischer Graben durch die Stadt: Derjenige zwischen Erwachsenen und Teenagern. Denn letztere nehmen Drogen, und vermuten eine heiße Spur bei einem örtlichen Dealer, erklärt O’Nan.

„Die Teenager haben natürlich ein Problem damit, über die Drogen zu sprechen. Die Eltern verstehen das nicht, die Polizei mag das nicht, und vielleicht würde die Suche dann anders verlaufen. Als die Mutter dann eine Vermisstensendung im Fernsehen kontaktiert, ist das endgültig keine persönliche Trauerarbeit mehr. Es wird eine öffentliche Show mit eigenen Regeln, denen man folgen muss, damit das funktioniert. Die Mutter hasst das, sie wird zu einer Art Politikerin in der Sache. Aber sie meint, es sei der einzige Weg, ihre Tochter wiederzubekommen.“

Nicht hysterisch, sondern cool, eben wie in der Werbung solle sie sich geben, empfiehlt ein Bekannter sogar. Die Polizei wiederum will Fakten. Das Bild einer Vermissten changiert ständig, je nach Situation, und auch das zerreißt die Erinnernden. O’Nan beschreibt das alles in kurzen Kapiteln, schlichten Absätzen, in einer karg-minimalistischen Sprache, die Thomas Gunkels Übersetzung ebenfalls transportiert. Man meint, O’Nans früheren Ingenieurberuf herauszuhören. Der Autor:

„Es ist von Vorteil, wenn man eine Art Fundament in einem anderen Beruf hat, wenn man zum Schreiben findet. Das ist gar nicht so ungewöhnlich. Norman Mailer, Thomas Pynchon oder George Saunders waren das auch. Der Ingenieurberuf hat mit Präzisionsarbeit zu tun, ebenso das Schreiben. Man schaut, was die Welt ausmacht. Ein Ingenieur kann kein Theoretiker sein, er muss die Realität respektieren. “

Gerade das macht den Roman so beängstigend: Ständig legt Stewart O’Nan  falsche Fährten aus, schildert zum Beispiel quälend langatmig die Verhöre der Polizei. Immer wieder scheint die Geschichte auf einen Wendepunkt zuzusteuern, auf den entscheidenden Hinweis – und dann verlaufen sich die Tipps von wirren Zeugen und verschrobenen Hellsehern doch wieder im Sande. Ein hoffnungsloses, träges Leiden ereilt Kims Familie, das Gefühl, dass die Welt zusammenhanglos sei. Man mag das als wenig literarisch oder wenig verdichtet ansehen – aber es kommt dem Gefühl der Betroffenen wohl am nächsten. Stewart O’Nan resümiert:

„Die Leute haben sich so an schön aufbereitete Rätsel gewöhnt, dass sie auf alles eine Antwort wollen. Aber ein echtes Rätsel kennt keine Antwort. So ist das Leben!“

Stewart O’Nans Roman „Alle, alle lieben Dich“ ist bei Rowohlt erschienen, hat 416 Seiten und kostet 19 Euro 90.

Für die „Bücherlese“ in SR2.