Der Sonntagsspaziergang ist für viele Deutsche die natürlichste Sache der Welt. Doch warum jagen die Amerikaner lieber, warum finden die Chinesen dann ihre Erholung nur im Sitzen? Antworten gibt ein neuer Sammelband. Demzufolge entsprang der Spaziergang der abendländischen Aufklärung und ist eng mit der Kulturphilosophie der dieser Epoche verknüpft: Die Natur genießt nur, wer sie einerseits gezähmt hat und wer sie andererseits in seinem Alltag nicht mehr erlebt. Das sind einige der Thesen aus dem Buch „Kopflandschaften – Landschaftsgänge“, Ergebnis einer Tagung auf der Museumsinsel Hombroich im Jahre 2005 und nun erschienen in einem Sammelband im Böhlau-Verlag.
Viele von uns fahren mit dem Auto zur Arbeit, bewegen sich allenfalls noch im Internet. Gearbeitet und erlebt wird geistig und virtuell, der Körper stört da nur. Das war mal anders, wie die Kulturgeschichte des Spaziergangs aus dem Böhlau-Verlag beweist: Der Spaziergang folgte einem aufklärerischen Programm, bildete den Menschen und emanzipierte ihn von gesellschaftlicher Unterdrückung und von den Zwängen der Zivilisation – so die zentrale These des Buches.
Mit der jüngst aufgekommenen Promenadologie eines Lucius Burkhardt hat das nichts im Sinn: Jene will Städte erwandern, um sie ganggerechter planen zu können. Die vorliegende Kulturgeschichte dagegen erklärt uns die Geburt des Spaziergangs aus dem Geiste der europäischen Aufklärung. Schließlich, so lesen wir staunend, spazieren weder die Amerikaner, noch die Chinesen, während die Deutschen ihren Sonntagsspaziergang kultivieren und die Franzosen in ähnlicher Weise picknicken!
Eine wasserdichte Definition für den Spaziergang liefert das Buch zu Anfang zwar nicht, wohl aber Abgrenzungen. Anders als der Wanderer ist der Spaziergänger immer vor Anbruch der Dunkelheit daheim, und anders als der Flaneur des 19. Jahrhunderts bei Walther Benjamin ist er nicht in der Stadt, sondern auf dem Land, im Wald oder im Gebirge unterwegs – wenngleich so mancher Spaziergangstheoretiker der Romantik auch empfiehlt, die Stadt nie aus den Augen zu verlieren.
In der freien Natur nämlich ist es dem Menschen erst geheuer, nachdem er sie bezähmt hat – und sie ästhetisch wahrnehmen kann. Den Anfang habe Petrarca gemacht, der 1335 den Mont Ventoux bestieg. Von dort lässt sich die Linie weiterziehen zu deutschen, französischen und auch englischen und amerikanischen Aufklärern und Romantikern, deren Texte im Band ausführlich analysiert werden. Zum Massenphänomen wurde der Spaziergang schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.
Anstatt die Landschaft nur statisch von Aussichtspunkten zu begucken, schlugen die Philosophen nun vor, die Natur zu durchstreifen und damit wirklich zu erfahren. Allerdings mit äußerster Sorge um den Körper, der nicht zu schnell erhitzt werden sollte, wie es Wanderführer und touristische Handbücher bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts verkündeten. Später wiederum verlachten andere diese Entkörperlichung, diese „Kopfgänge mit wandernden Augen“ und traten für „Bauch und Bein“ ein, also für körperliche Anstrengung mit anschließender ordentlicher Mahlzeit.
Das alles bettet das Buch gekonnt sozialgeschichtlich ein. Denn viele damalige Autoren erlebten den „Gang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“ beim Spazier-Gang! Der neuzeitliche Bürger stand abseits der feudalen Ordnung auf eigenen Beinen und suchte sich seinen eigenen Weg, in der Gesellschaft wie im Walde. Das wiederum wurde nur möglich, weil breite Bevölkerungsschichten schnelle Verkehrsmittel wie Postkutschen oder Eisenbahnen nutzen konnten. Dann erst erschien der Fußgänger würdig und kontemplativ. Vorher nämlich musste der einfache Pöbel zu Fuß gehen, während der Adel „spazierenritt“.
Auch von den religiösen Fesseln galt es sich zu lösen: Schließlich musste sich der Spaziergänger des 18. Jahrhunderts erst einmal vom christlichen Gedanken befreien, er fröhne dem Laster des Müßiggangs. Da nimmt es nicht Wunder, dass so mancher auf halbem Wege stecken blieb und die Natur zum Tempel, seine Gärten zum Paradies auf Erden umgestaltete.
Die Kulturgeschichte des Spaziergangs hat auch ihre Schattenseiten: Manchen verwirrt der Gang in die Fremde bis zum Identitätsverlust, weil einfach zu viele Sinneseindrücke auf ihn einstürmen, wie zum Beispiel in „Franz Sternbalds Wanderungen“ von Ludwig Tieck. Außerdem blieben die Frauen vom Spazieren bis ins 19. Jahrhundert ausgeschlossen: Sie ertrügen die einsame Düsternis nicht und suchten allenfalls erotische Abenteuer in der Natur – fürchteten die Männer. Eine ruhmlose Ausnahme bildete die Schwester des William Wordsworth. Er bezeichnete sie als „natürliches Aufzeichnungsgerät“ für Eindrücke, die er später in seinen Naturgedichten verwendete
Nach diesen Ausführungen zu Alteuropa also wundert es nicht, dass in den USA im strengen Sinne kaum spaziert wird. Dort ist Natur schlicht unkultivierte Wildnis für den Jagdsport. Und in China vermeidet der Weise seit jeher das mühevolle Gehen, weil ihn die Erleuchtung im Sitzen ereilt.
Dass Sinologen und Filmwissenschaftler, Musik- und Literaturwissenschaftler am Band beteiligt waren, das verleiht dem Buch Breite und Tiefe. Einige Aufsätze sind alles andere als populärwissenschaftlich geschrieben, aber davon sollte man sich nicht abschrecken lassen: Es warten viele erstaunliche Zitate und Erkenntnisse. Man darf ruhig querlesen – mit den Romantikern als Paten: Auch dieses Buch will erwandert werden, aber Nebenpfade sind erlaubt.
Axel Gellhaus, Christian Moser, Helmut J. Schneider (Hg.): Kopflandschaften – Landschaftsgänge. Kulturgeschichte und Poetik des Spaziergangs. 320 Seiten, Böhlau Verlag 2007.