Es wird bunt in der Kultur, glaubt der Soziologe Dirk Baecker. Denn mitdiskutieren werden bald auch intelligente, reflektierte Roboter. Das müsse bei einer allgemeinen Theorie der Kultur endlich mitbedacht werden!
Intelligente Algorithmen analysieren schon heute allerlei Daten und generieren Aussagen über die Gesellschaft und Kultur. Eine Kulturtheorie muss also mit der Aufklärung brechen, die Beobachtung, gar Selbstbewusstsein allein im Menschen verankerte und deshalb von ihm allein ausging. Dehnt man den Kreis möglicher Wahrnehmungssubjekte wieder aus, müssen ganz allgemein Beobachter und der Akt des Beobachtens als Anfang einer Kulturtheorie dienen.
Eine sehr abstrakte Herausforderung einer lediglich beschreibenden Soziologie, ein Programm, das ohne engagiert-emanzipatorischen Schwung auskommt, wie man ihn aus der Frankfurter Schule kennt! Baecker gibt sich zu Anfang ironisch:
„Dies ist ein Buch über nichts. Es handelt von keinem bestimmten Gegenstand, versucht seinem Leser keine besonderen Meinungen nahezulegen und enthält keine Einladung, sein Leben zu ändern.“
So sind denn auch intellektuelle Spannkraft, Leseatem und Logiklust vonnöten in der ersten Hälfte des Buches. Die Theorie erarbeitet Baecker, unter Rückgriff auf Luhmanns Systemtheorie und deren Inspirationsquelle, der „Laws of form“ des Mathematikers George Spencer-Brown. Hier gibt sich Baecker formal und erschauert gleichzeitig vor seinen akademischen Helden, zu denen sich seit Kurzem Kant, Fichte, Schelling und Hegel gesellt haben. Denn:
„Eine erste Ausarbeitung der Theorie des Beobachters, wenn auch noch nicht unter diesem Namen, verdanken wir der Philosophie des deutschen Idealismus.“
Insbesondere Fichte habe das Beobachter-Paradox formuliert: Beobachtung braucht ein Subjekt – das Ich oder abstrakter: den Beobachter. Der ist aber kein einfaches Ding. Denn wenn er sich beobachtet, tut er ja das, was er beobachten will.
„Er ist der Punkt, der nicht zu greifen ist.“
Genau deshalb müsse man von Beobachtungsakten sprechen und von substanzartigen Beobachtern absehen. Die Systemtheorie habe die vagen Ideen des deutschen Idealismus endlich formalisiert. Das scheint aber ein typisch abendländischer, akademischer Marketing-Trick: frühere Ideen reformulieren und sie als eigene Vorreiter auszugeben – das ist alter Wein in neuen soziologischen Schläuchen!
Nichtsdestotrotz hat diese Kulturtheorie einen Vorteil: Anstatt Kultur im Hirn, im Einzelnen, im Volk und so weiter immer wie eine Substanz zu verorten, konzentriert sie sich eben auf die Akte der Beobachtung – den Strom von Aussagen, Erwiderungen, Durchkreuzungen, Reflexionen, die Kultur Baecker zufolge ausmachen:
„Wir gehen aus von der Hypothese, dass man die Kultur als Widerstreit gegen die Gesellschaft in der Gesellschaft […] begreifen kann.“
„Kennzeichen des kultivierten Menschen ist nicht dessen Einklang mit sich selbst, sondern dessen reflexive, um nicht zu sagen rebellische Unruhe.“
Mag sich die Systemtheorie oberflächlich kühl geben, im Untergrund weht dann doch der Wind der Subversion. Eigentlich wackele in der Gesellschaft sowieso ständig alles, denn die Perspektiven der Mitglieder widersprechen sich, meint Baecker. Kultur wäre dann…
„…die Anerkennung der Position eines Beobachters unter dem Gesichtspunkt der Kontingenz dieser Position.“
Kultur reflektiert, wie sie selbst über sich nachdenkt, wie sie über sich spricht. Sie bringt diese Problematik wieder in die Diskussion ein und stiftet damit gerne Aufruhr. Manche hassen, andere lieben das, ohne aber sagen zu können, was genau diese geliebte Kultur sei, – eben weil sie ein Prozess und kein Objekt ist.
„Der Vorteil ist, dass dem diffusen Kulturbegriff ein theoretisch präziser Begriff gegenübergestellt werden kann. Und der Nachteil ist: […] Es gibt nach diesem Konzept keine Sondersphäre der Kultur, ebenso wenig wie es ein eigenes System der Kultur gibt. Kultur ist überall, wo Symbole als Symbole beobachtet werden.“
Man könnte auch sagen: Wo die Systemtheorie hinblickt, sieht sie kaum Spezifisches, sondern am Ende immer nur leere Prozesse. Das liegt wohl an der eigenwilligen Perspektive – so auch hier. Schade.
Dirk Baecker: „Beobachter unter sich. Eine Kulturtheorie“ ist bei Suhrkamp erschienen. 309 Seiten kosten 34 Euro 95.
(für SWR2 Buchkritik)