Der Jenaer Forscher Hartmut Rosa hat seine soziologische Theorie der Beschleunigung bündig zusammengefasst. Gut so, dann schafft auch der gestresste Zeitgenosse es mit der Lektüre!

In einer Zeit, in der mancher Soziologe kühl Systeme beschreibt und sich über Aufklärung oder Emanzipation amüsiert zeigt, ist Hartmut Rosa ein willkommener Gegenpart: Er orientiert sich am Erleben – und Leiden – der Menschen und stellt fast schon naiv die Frage, was einem guten Leben heute im Wege steht. In allen Schichten, Berufen und Altersklassen wird man zwischen Powernaps, Speeddating oder Drive-Through-Beerdigungen dieselbe Antwort finden: Zeitmangel und Beschleunigung. Artikuliert von Shakespeare bis Rousseau, von Marx bis Marinetti, scheinen wir – und viele Soziologen – dennoch seltsam blind für diesen modernen Dämon, den mancher gerne als ein jeweils rein subjektives Problem abschreiben möchte, meint Hartmut Rosa:

„Aber man kann Lebenstempo durchaus messen, indem man versucht, die Zahl der Handlungsepisoden pro Zeiteinheit zu bestimmen. Und da stellen wir fest, dass es den permanenten Druck und die Absicht gibt, das zu erhöhen, damit wir mehr unterkriegen im Tag. Wir stellen fest, dass Akteure Pausen und Leerzeiten vermeiden zu versuchen, dass sie versuchen, mithilfe von Multitaskingtechniken die Zahl der Handlungsepisoden pro Tag oder pro Zeiteinheit zu erhöhen, so dass man also Lebenstempo messbar machen kann über die Zahl der Handlungsepisoden pro Monat, Jahr oder Leben.“

Verlässliches veraltet immer schneller – die Gegenwart „schrumpft“. Aber warum eigentlich? Einerseits verspricht der technische Fortschritt eine immer bessere Ausbeutung der Zeit, etwa durch Smartphones, die dann noch mehr Druck erzeugen. Der Kapitalismus mit seiner Zinswirtschaft und dem Motto, Zeit sei Geld, tut sein Übriges. Vor allem aber durchdringe eine Wettbewerbslogik unsere Gesellschaft, die Rosa als maßgeblichen Antreiber im Beruflichen ansieht. Im Privaten hingegen wirke eine kulturelle Eigenart der abendländischen, säkularen Moderne: Wo kein ewiges Leben nach dem Tod mehr winkt, soll es vor dem Tod stattfinden – durch Verdichtung.

„Wir machen das im Kleinen wie im Großen, dass wir versuchen, durchs Schnellermachen mehr mitzunehmen. Wir bleiben nicht mehr vier Wochen am Urlaubsort, sondern gehen lieber vier oder fünf oder sechs Mal im Jahr in kleinen Häppchen an verschiedene Orte, dass wir mehr Welt ausschöpfen können. Das Problem dabei ist natürlich, dass die Weltoptionen viel schneller gestiegen sind als unsere Beschleunigungsfähigkeit, so dass unser Ausschöpfungsgrad eigentlich immer kleiner wird, und so erweist sich letztlich diese Idee, dass man ein ewiges Leben vor dem Tod haben kann, wenn man schnell genug wird, weil man dann noch unendlich viel tun kann, bevor man sterben muss..so erweist sich diese Idee als Illusion!“

Scheinauswege allerorten: Yoga, Ferien in der Einöde, „Downshifting“ – alles bewusste Langsamkeits-Trends, die Rosa als „funktionale Entschleunigung“ verwirft – nichts als ein Durchatmen, um danach wieder schneller weiterzuhecheln. Die Beschleunigung bedroht letztlich wichtige Eckpfeiler unserer Gesellschaft: die Demokratie, die unter Zeitdruck kaum noch fundierte Entscheidungen treffen kann, ebenso wie die Wertschätzung und Autonomie des Einzelnen, der bei Anzeichen von Bummelei aus dem Arbeitsmarkt geworfen wird. Akzeptieren wir dieses Unheil als Quasinatur, so verraten wir die Aufklärung, die doch gerade die Bändigung der Natur versprach. Hier belebt Rosa die Frankfurter Schule neu, versteht seinen Kampf als Verminderung von Entfremdung, welche durch unsere Selbstunterdrückung entsteht. Der Beschleunigungszwang produziert nämlich ständig schuldige Subjekte, die – anders, als zum Beispiel in der sündenversessenen katholischen Kirche – keine Entlastungsinstitution wie die Beichte mehr haben. Deshalb spricht Rosa denn auch gleich von einer  „Beschleunigungsdiktatur“:

„Wenn man ein totalitäres Regime daran erkennen kann, dass die Untertanen nachts schweißgebadet mit klopfendem Herzen aufwachen, mit dem Gefühl, dass es sie bald erwischt, dass sie nicht mehr können, dass sie verloren sind, dann, glaube ich, ist das moderne Beschleunigungsregime effizienter als jede bekannte Diktatur. Und ich wähle diese Totalitarismusmetapher, weil ich  glaube, dass der damit verbundene Zwang gar nicht ohne Weiteres sichtbar wird. Der wird gar nicht politisch thematisiert, weil er hinter dem Rücken der Akteure wirkt. Und die Idee des Buches ist, das wieder hinter dem Rücken hervorzubringen und in das Gesichtsfeld der Akteure zu stellen.“

Äußerst pointiert und in einfacher Sprache gelingt es Rosa, das Problem „Beschleunigung“ in allen alltäglichen Varianten und mit fachlicher Tiefe auszumalen. Aber was sollen wir jetzt tun?! Mehrfach im Buch veranschaulicht Rosa am Bild des Surfers, wie wir uns eine Lösung einbilden, wie wir aktiv von Chance zu Chance hüpfen. Dabei werden wir nur von den Wellen hin- und hergeworfen.

„Es kommt zu so einer ‚Episodalisierung‘ im Blick auf das eigene Leben, indem es nämlich immer schwieriger wird, das eigene Leben als Fortschrittsgeschichte zu beschreiben und zu erfahren, als zielgerichtete Erfahrung eines Lebensprojektes auf ein Lebensende hin. So dass die Subjekte sagen: Naja, da kamen fünf Jahre, da war ich in Hamburg, da habe ich diesen Job ausgeführt, und habe vielleicht mit dem Lebenspartner zusammengewohnt, und dann kam eine andere Episode in meinem Leben, da hatte ich einen anderen Job in einer anderen Stadt und vielleicht sogar andere Lebenspartner, das heißt, das Leben ist zumindest in Gefahr, in Fragmente und Episoden zu brechen und lässt sich nicht mehr zusammenbinden im Blick auf ein einheitliches Projekt.“

Meist führt das zu innerer Leere. Hartmut Rosa schwebt eine umfassendere Lösung vor: Das grundlegende Problem sei unsere Weltbeziehung, seit der Moderne durch eine umfassende Weltbeherrschung gekennzeichnet. Wir müssten uns von diesem Funktionalisierungsdenken losreißen: Nicht das Wirtschaftswachstum, sondern ein Mehr an sogenannten „Resonanzerfahrungen“ sollten die Suche der Menschen nach dem glücklichen Leben leiten.

„Wo sie das Gefühl haben, in dem was sie tun, mit den Menschen, mit denen sie interagieren, da gibt es eine Art von Entsprechungsverhältnis von innen und außen. Das kann man wirklich zeigen, dass Menschen sich dort glücklich fühlen, wo sie sagen: Ja, bei dem, was ich tue, kommt etwas  zurück, ich werde berührt, aber ich habe auch das Gefühl, ich kann andere berühren oder etwas da draußen berühren. Allerdings ist mir wichtig, zu sagen: Das ist nicht nur eine Einstellungssache, sondern auch der Institutionalisierung – in kapitalistischen ökonomischen Verhältnissen wird das ganz schwierig umzusetzen sein, deshalb brauchen wir eine kulturelle Revolution, aber auch eine ökonomische und außerdem noch eine Reform des Sozialstaats.“

Eine ziemlich große Wunschliste für eine sehr abstrakte Lösung. Zumal die möglichen Revolutionssubjekte in den kulturellen und ökonomischen Institutionen ja im Rattenrennen gefangen scheinen. Sie schließen sich ja eben nicht zusammen, weil sie sich selbst und den anderen entfremdet sind. Auch hat die angestrebte Resonanzerfahrung eine dunkle Seite, wie die von Rosa vielzitierte neuere Burnoutforschung lehrt. Entfremdung kommt heute nämlich eher durch eine zwanghafte Überidentifikation mit Arbeit zustande: Wir sollen unseren Job permanent vor dem Chef bejubeln. Hartmut Rosa weiß letztlich, wo es hingehen soll, aber nicht, wie. Hoffentlich findet er da eine Antwort. Und zwar möglichst schnell!

Hartmut Rosa: „Beschleunigung und Entfremdung. Entwurf einer kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit.“ ist bei Suhrkamp erschienen. Die englische Fassung wurde von Robin Celikates ins Deutsche übertragen. 154 Seiten kosten 20 Euro.

(für SWR2 Forum Buch)