Andrew Sean Greer erzählt in seinem neuen Buch die verschlungene „Geschichte einer Ehe“ in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Das ist ziemlich verschieden vom Romanerstling „Die erstaunliche Geschichte des Max Tivoli“, in dem Greer höchst glaubwürdig die unglaubliche Geschichte eines Mannes schilderte, der als Greis geboren wird und sich bis zum Tode weiter verjüngt. Stilistische Brillanz, Detailfülle, die Kunst des Weglassens und ein bewundernswertes Einfühlungsvermögen ließen die internationale Kritik damals jubeln. Der neue Roman ist mit 208 Seiten schmal, aber Pascal Fischer war dennoch sehr begeistert.
„Wir glauben, die zu kennen, die wir lieben“.
So beginnt die Hauptfigur Pearlie Cook ihre Erzählung, in der ihr eigener Ehemann Holland ihr immer unbekannter erscheinen wird. Eigentlich leben Pearlie und Holland 1953 ein idyllisches, fast biederes Leben in San Francisco, in einer nebeligen Nachbarschaft direkt am Ozean. Doch dann klopft eines Tages Buzz Drumer an die Haustür. Er sei der ehemalige Liebhaber ihres Mannes, sagt er Pearlie, und bietet ihr sein gesamtes Erbe an – im Austausch gegen ihren Ehemann. Autor Andrew Sean Greer:
„Darum geht es in diesem Buch: Was würde eine Frau dazu bringen, eine solche Entscheidung zu treffen? Pearlies Ehemann Holland ist das Objekt der Begierde für die zwei. Sie wenden alle ihre Energie dafür auf, ihn für sich zu gewinnen.“
Meist abwesend, übt Hollands unergründliches Wesen eine schwer beschreibbare Anziehungskraft aus. Wird Holland das konventionelle, sichere, langweilige Eheleben wählen, oder die Leidenschaft, die Flucht mit dem Liebhaber und damit den Gesetzesbruch in einer homophoben Atmosphäre der frühen 50er?
„Ich habe eine Zeit gewählt, in der mehr Einschränkungen für die Figuren herrschten als heute. Damals gab es selbst in San Francisco noch keine nennenswerte Bewegung für die Gleichberechtigung. Homosexuelle hatten das Gefühl, sie steckten in einer Sackgasse.“
Dabei erinnert uns der Autor verdienstvoll daran, dass die Fünfziger Jahre keine zurückgezogen-biedere, sondern eine sehr bewegte Zeit waren: Der Koreakrieg, die Angst vor einem Atomkrieg, Sirenenalarm und McCarthy’s Kommunistenhatz bestimmten das Leben, ebenso die erwachende Bürgerrechtsbewegung. Geschickt webt Greer alles in seine Gesamtkomposition ein, oft auf völlig überraschende Weise, etwa wenn der Leser erst nach mehreren Passagen erfährt, dass Pearlie und Holland Afroamerikaner sind, Buzz Drumer jedoch ein Weißer – eine zusätzliche Komplikation.
„Pearlie würde das nicht pflichtbewusst am Anfang erzählen, sondern erst, wenn sie bestimmte Einschränkungen in ihrem Leben als Schwarze thematisiert. Ich hoffe, der Leser merkt schnell, dass er Vieles erst einmal nur vermuten kann, dass es noch mehr gibt, was Pearlies Leben erklärt.“
Ohne hier zu viel zu verraten: Mehrere aufschlussreiche Rückblicke tauchen die Figuren in ein zunehmend ambivalentes Licht. Greer zeigt die Figuren in ihrer gesamten Komplexität, erhellt ihre Zeit durch existentielle Dilemmata:
Darf man den Dienst an der Waffe verweigern, wenn man weiß, dass man ohnehin als Kanonenfutter für aussichtslose Missionen endet? Soll man sich verstecken, sich vorsätzlich verstümmeln? Macht man sich gegenüber gefallenen Freunden dann umso schuldiger? Mehrmals führen frühere und gegenwärtige Entscheidungen zu unvorhergesehenen Folgen, und die Figuren müssen sich fragen, wieviel Schuld sie tragen.
„Die Geschichte einer Ehe“ wird damit auch zu einer Geschichte über Minderheiten, Kriegsdienstverweigerer und den Krieg an sich. Das allerdings ergab sich erst im rechercheintensiven Schreibprozess.
„Ich dachte, es würde eine einfache Geschichte werden, fast zu einfach. Doch dann änderte das Kriegsthema nach und nach alle Aspekte der Handlung. Das hat mich geradezu erschreckt. Wenn man das nach der Hälfte des Manuskripts begreift, muss man entscheiden, ob man alles oder nichts verändert. Ich prüfte, was stimmig war, und gab den ursprünglichen Plot auf.“
Andrew Sean Greer entgeht der Überfrachtung, indem er sich auf notwendige Details beschränkt. Auf 208 Seiten hat er mehr Raum für Lebensweisheit als viele doppelt so dicke, vom Zeitkolorit besessene Romane.
Ist es unglaubwürdig, dass die einfache Hausfrau Pearlie in Allegorien und Vergleichen spricht, wie John Updike kritisierte? Der Einwand kann einem egal sein, denn: Zitierfähige Sentenzen finden sich unglaublicherweise fast in jeder Passage. Das ist Literatur!
Rezensiert für NDR Kultur.