Der Philosoph Christoph Türcke mahnt bei der Transgender-Debatte zu mehr Vorsicht und stichelt hier und da mit geistesgeschichtlichen Argumenten gegen die linke Identitätspolitik. Über manche wütende Reaktion auf das Buch kann man sich dennoch nur wundern.

Der Philosoph Christoph Türcke hat sich stets in die heißen Debatten eingemischt. So hat er in den vergangenen Jahren Bücher zu unserer „Aufmerksamkeitsdefizitkultur“, zur Theorie des Geldes, zur Bildungsreform und zu den digitalen Medien vorgelegt. Dass er seit 2014 schon als Professor an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig emeritiert wurde, tut Türckes Schaffenskraft und Streitlust keinen Abbruch: Nun wirft er sich mit „Natur und Gender“ in das Getümmel der Identitätspolitik und ergründet, wieviel bei unserer sexuellen Identität biologisch bedingt, wieviel kulturell erlernt ist.

Und da ist Christoph Türckes Buch kaum draußen, da wird ihm in den ersten Rezensionen schon durch die Blume unterstellt, ein alter, weißer Mann oder gleich queer- und menschenfeindlich zu sein. Das ist nicht nur traurig, weil man hier wieder einmal nur auf Person und vermeintlich mangelhafte Zeitgeistigkeit zielt. Das ist traurig, weil kaum begreiflich ist, wie man von so einem differenzierten Buch dermaßen getriggert werden kann.

Türcke sagt im Kern: Es gibt ein drittes Geschlecht, es gibt Intersexuelle, es gibt Transsexuelle, die ein Recht haben auf ein Leben in der Form von Körper, die sie ersehnen. Diejenigen, die sich als erste im 20. Jahrhundert umoperieren ließen und dafür oft Schmerzen, Missachtung und lebenslange Behandlungen in Kauf nahmen, würdigt Türcke ausdrücklich als mutige Pioniere.

Beunruhigt zeigt er sich eher von den explodierenden Zahlen: Seit 2013 etwa habe sich in München die Zahl derer, die sich zum Thema Transgender beraten ließen, verfünffacht. Türcke vermutet, dass in unserer Gesellschaft das Skalpell allzu locker sitzen könnte. Eine verständliche Mahnung zur Vorsicht, ist doch eine Geschlechtsumwandlung kaum vollständig rückgängig zu machen. Das attestierte Aufregerpotential des Buches liegt wohl eher darin, dass es gegen den linken Diskurs stichelt.

Wie im Vorbeigehen watscht Türcke die Säulenheiligen des linken Diskurses ab: Foucault, Derrida, Deleuze und Guattari und allgemein den Konstruktivismus kritisiert er für eklatante Grundwidersprüche in ihren Theorien.

Dann wieder ärgert Türcke ganz vorsätzlich: So arbeitet er heraus, warum der Hyperkapitalismus den neuen Geschlechteridentitäten so aufgeschlossen gegenüber steht: Es ist dem Wirtschaftssystem nämlich schlicht egal, wen es ausbeutet, solang es sich modern und aufklärerisch geben kann.

Die größte narzisstische Kränkung der genderbezogenen Identitätspolitik dürfte darin liegen, dass Türcke sie gerade nicht als Avantgarde, sondern als verhaftet in uralten Traditionen sieht. „Kritik eines Machbarkeitswahns“ heißt das Buch im Untertitel, und diese Allmachtsphantasie entdeckt Türcke in den Tiefenschichten unserer Kultur: In der „creatio ex nihilo“ des alttestamentarischen Gottes, in allen Spielarten des Konstruktivismus seit Immanuel Kants Transzendentalphilosophie. Die Denkfigur sei immer dieselbe: Anstatt ein vorhandenes Material anzuerkennen, ob nun Welt, Materie oder Biologie genannt, werde stets von einer kompletten Freiheit bei der Kreation ausgegangen.

Mittlerweile ist Türcke schon vorgeworfen worden, für sein Buch zu wenig mit Betroffenen gesprochen zu haben. Dabei zitiert er sogar einige, nur leider diejenigen, die nicht in die Verheißungserzählung passen. Etwa Nancy Hunt, die Türcke zufolge bekenne, sich in ihrer Weiblichkeit auch deshalb wohlzufühlen, weil sie einen ungeheuren Preis gezahlt habe. Vor diesem Erfolgsdruck einer OP warnt Türcke ebenso wie vor der verminderten Lustfähigkeit, vor dem Leiden durch lebenslange Behandlungen und vor so Vielem mehr.

„Sentio ergo sum“, ich fühle mich auf eine Weise, also bin ich das! So umschreibt Türcke das neue Paradigma der Identitätspolitik, das ignoriert, dass sich Menschen über sich selbst auch irren können. Der Wunsch nach der Geschlechtsumwandlung könne – müsse aber nicht (!) – eine Pubertätsverwirrung oder unterdrückte Homosexualität sein, argumentiert Türcke mit Rückgriff auf psychoanalytische Theorien. Bei allem Wissen wohlgemerkt, dass es sich Betroffene nie leicht machen mit ihren Entscheidungen.

So erhellend der historisch-theologisch-philosophische Rückblick ist, so langatmig gerät er bisweilen. Für die Grundargumentation hätte es Vieles nicht gebraucht. Weder lateinische Etymologien, noch Kants Kategorientafel im Detail.

Bis es endlich um Gender geht, scheint das Thema sehr lange nur allgemein „Natur und Kultur“ zu lauten. Und ein bisschen cherry picking zwischen Empirie und Kulturtheorie ist immer dabei, je nachdem, ob harte Fakten oder eine ziemlich philosophische Freudsche Psychoanalyse helfen.

Und manches Mal schießt Türcke wirklich über das Ziel hinaus, wenn er Beschneidung, klösterliche Enthaltsamkeit und Geschlechtsumwandlung allzu nah rückt.

Eine Mahnung zu mehr Vorsicht und mehr geistesgeschichtlicher Tiefe in den aktuellen Debatten – mit einigen Um- und Holzwegen.

Christoph Türcke: Natur und Gender. Kritik eines Machbarkeitswahns. 233 Seiten kosten 22 Euro.

Rezensiert für die Lesenswert Kritik auf SWR2 und hier für begrenzte Zeit nachhörbar.