Im Frühjahr 2004 erhielt Susan Sontag von ihrem Arzt eine schockierend fatale Diagnose: Blutkrebs. Ihr Sohn David Rieff erzählt nun vom Sterben seiner Mutter, vom Kampf gegen den Tod, vom Hunger nach dem Leben und der Literatur. Die amerikanische Essayistin und Erzählerin litt unter dem myelodysplastischen Syndrom, das fast immer zum Tod durch Leukämie führt. Zwar hatte Susan Sontag Brustkrebs und Gebärmutterkrebs überlebt, über die öffentliche Wahrnehmung tödlicher Krankheiten in Schriften wie „Krankheit als Metapher“ und „AIDS und seine Metaphern“ reflektiert. Aber dieses Mal wusste sie, dass die Krankheit tödlich sein würde. Wie ging die Theoretikerin damit um?
Susan Sontags große Leistung war es einst, die fatalen Metaphern zu kritisieren, die sich um Krankheiten ranken und die Last des Leidens noch verstärken: Krankheiten als Strafen für einen ungesunden, sündigen oder sexuell abnormen Lebenswandel. Im Angesicht des Todes ist Susan Sontag offenbar nicht in solche Erzählungen zurückgefallen. Aber das Kernproblem, das ihr Sohn David Rieff in seinem Buch herausarbeitet, war die gnadenlos demokratische Wucht des Todes. Sontag musste schlussendlich begreifen, dass sie, die sich früh zu Großem berufen fühlte, dass sie, die noch so viel schreiben und lesen wollte, schließlich auch sterben musste.
„Ich glaube immer mehr, dass sich die Welt aufteilt in zwei Arten von Menschen: in diejenigen, die ihre eigene Sterblichkeit akzeptieren, wenn auch mit einem gewissen Maß an Resignation, – und in diejenigen, für die Sterblichkeit Mord gleichkommt, wie es Elias Canetti einmal ausdrückte. Es geht im Buch nicht nur um meine Mutter. Ich zeige, was es heißt, ein Todesurteil zu erhalten und das nicht akzeptieren zu können.“
Susan Sontag bietet da ein Extrembeispiel. Einerseits hat sie dem Tod schon früher ins Auge blicken müssen, andererseits verdrängte sie ihn – oder schrieb Essays über die eigene Krankheit. Eine ihrer Thesen beispielsweise lautete, dass der heutige Kranke sich nicht mit Gedichten beruhigt, sondern sich medizinisches Wissen aneignet und so am Heilungsprozess mitarbeitet.
„Die meisten Betroffenen recherchieren heutzutage nach medizinischen Fakten. Meine Mutter eignete sich damals viel Wissen über Krebs an. So etwas ist nicht einfach nur ein nutzloses, beruhigendes Ritual. Natürlich kann das Menschen retten oder zumindest ihr Leben verlängern. Trotzdem liegt hier ein Widerspruch. Einerseits behandeln wir alles wie eine heilbare Krankheit, andererseits wissen wir, dass wir an irgendetwas sterben müssen. Da liegt eine große Spannung.“
Eine Spannung, die Rieff nicht lösen kann und will. Zwar schreibt er das essayistische Werk Sontags mit diesem kleinen, persönlichen Bändchen nicht fort. Aber er zeigt, was passiert, wenn eine Denkerin auf die denkbar drastischste Weise gezwungen wird, eigene Thesen über Tod und Leiden zu revidieren, etwa, dass Leukämie der einzig romantisierbare Krebstod sei. Oder, dass Krankheit das Leben vertieft. Ganz im Gegenteil fühlte Sontag sich in ihrem Körper nach zahllosen Untersuchungen eher flach, opak, durchleuchtet.
Sontags festen Atheismus hat die Krankheit trotz allem nicht erschüttert. Sie hielt die Hoffnung auf ein Jenseits für irrational. Auch Rieff macht im Buch keinen Hehl daraus, dass der tröstende Gedanke an ein Leben nach dem Tode gar nichts beweist.
„In so einem Falle beglückwünscht sich ein religiöser Mensch nur zu seinem Glauben…! Viele Atheisten sind sanft entschlafen, zum Beispiel David Hume. Viele Religionen kennen auch gar kein Konzept vom Leben nach dem Tod, oder haben ein ganz anderes, wie zum Beispiel die Buddhisten. Dieses Konzept ist genuin christlich oder muslimisch – die Juden sind bei dieser Frage gespalten. Aber natürlich haben viele Menschen einfach Angst vor dem Tod, und meine Mutter hatte das auch. Es geht hier um die Angst, ausgelöscht zu werden. Sicherlich kann man sich der Rationalität verpflichtet fühlen. Aber es gibt nun einmal Dinge, die durch die Vernunft nicht leichter gemacht werden.“
Sontag glaubte, wenn sie nur hart genug kämpfe, könne sie überleben oder den Krebs so lange hinauszögern, bis er als chronische Krankheit behandelbar sei – trotz ihrer luziden und bitteren Einsicht in den unvermeidbaren, nahen Tod. Mehr als einmal drängt sich der Eindruck auf, dass die Hoffnung auf ein Stück Weiterleben heute eine Art säkulares Jenseits geworden ist.
Behutsam fängt Rieff die Grundwidersprüche dieser letzten Monate ein: Er enttarnt den falschen Ton der Hoffnung in Betroffenen-Broschüren, die doch nur geschrieben wurden, weil die Kranken sterben werden. Die kalten, hermetischen Worte des diagnostizierenden Arztes demütigen und infantilisieren Sontag; ihre letzten Ärzte dagegen beweisen eine so einfühlsame Sprache, dass Rieff noch heute mit ihnen befreundet ist. Leitmotivisch legt Rieff Rechenschaft über seine Versuche ab, seiner Mutter Mut zu machen. Einerseits fühlte er sich seiner Mutter als Journalist gerade durch die Sprache verbunden. Nun scheint dieselbe Sprache zu versagen oder zumindest zu beschönigenden Lügen zu zwingen.
„Meine Mutter wollte, dass ihr ihre engen Freunde sagten, sie habe eine Überlebenschance. Wenn man die Welt wirklich liebt, wenn man sich leidenschaftlich für sie interessiert, ist es schwierig, sie zu verlassen. Viele ältere Menschen ziehen sich von der Welt zurück. So war meine Mutter nicht. Das machte alles viel schmerzlicher und qualvoller.“
Trotzdem hält Rieff das ganze Buch über einen respektvollen Abstand zu seiner sterbenden Mutter. Es ist größtenteils chronologisch geschrieben, nimmt aber von Kapitel zu Kapitel frühere Gedanken wieder auf, umkreist Probleme immer wieder aufs Neue, wie in einem Bewusstseinsstrom eines Trauernden. Das mag daran liegen, dass Rieff sich früh entschied, sich während der Krankheit seiner Mutter keine Notizen zu machen. Er fürchtete, in eine professionelle Schriftstellerdistanz zu verfallen.
Demgemäß deutlich fällt sein Urteil gegenüber Annie Leibovitz aus. Die Starfotografin und lange Lebensgefährtin von Susan Sontag hatte Leben und Schaffen ganz offensichtlich nicht getrennt und Sontags Leiche abgelichtet.
„Ich denke, die Fotos von Annie Leibovitz sind zutiefst obszön. Annie hat einmal gesagt, meine Mutter hätte wohl nicht gewollt, dass diese Bilder veröffentlicht würden. Aber Annie habe es dennoch tun müssen. Ich finde, das spricht Bände. Ich denke nicht, dass mein Buch voyeuristisch ist. Von vielen Dingen spreche ich im Buch nicht, zum Beispiel über das Privatleben meiner Mutter oder meine Beziehung zur ihr. Das hat einen ganz einfachen Grund: Ich bin nicht bereit, darüber die Wahrheit zu sagen! Mir war sehr früh klar, dass ich ein Buch schreiben würde, in dem alles, was ich schreibe, wahr sein wird – soweit ich das subjektiv beurteilen kann. Den Rest werde ich einfach auslassen.“
Kein Enthüllungsroman, sondern ein würdevolles, im positiven Sinne bescheidenes Buch über das Sterben ist es geworden. Wo Rieff literarische Verweise oder medizinische Fakten sinnvoll erscheinen, streut er sie unaufdringlich ein. Das erhebt das Bändchen über viele Betroffenen-Biographien.
David Rieffs Buch „Tod einer Untröstlichen. Die letzten Tage von Susan Sontag“ hat 160 Seiten. Es ist bei Hanser erschienen, wurde von Reinhard Kaiser übersetzt und kostet 17 Euro 90.
Für die SR2 Bücherlese.