Sollte die Gesellschaft allen ein Recht auf Suizid ermöglichen und Gift bereitstellen, und unter welchen Bedingungen? Ferdinand von Schirachs neues Theaterstück „Gott“ gibt sich überaus faktenreich und engagiert – und überlässt uns das Urteil…

(Für begrenzte Zeit ist der Beitrag auf den Seiten des SWR2 Lesenswert Magazins nachhörbar.)

Ferdinand von Schirach ist im deutschen Literaturbetrieb fast schon eine eigene Marke mit Millionenauflagen und Veröffentlichungen und Übersetzungen in mehr als 40 Ländern. Der Berliner Strafverteidiger, geboren 1964, hat die Fallstricke des Rechts in mittlerweile vielen Büchern thematisiert: in Erzählungsbänden wie „Verbrechen“ und „Schuld“, in Romanen wie „Der Fall Collini“ und „Tabu“, auch in einem Theaterstück „Terror“, in Essays und Gesprächsbänden. Klauseln zur Exkulpierung von Altnazis, Notwehrexzess, Flugzeugabschüsse, freigesprochene Mörder und Vergewaltiger – keine Paradoxie oder Aporie lässt Schirach aus. Nun widmet er sich in seinem neuesten Theaterstück dem Thema Suizid bzw. Suizidbeihilfe. Pascal Fischer stellt den Text anhand des Hörspiels vor.

Gerichtsdramen haben gegenüber Romanen einen Vorteil: Die Figuren können zu Thesen-Statthaltern werden, ohne große Vorwürfe zu ernten. Und mit einem Fachmann wie Ferdinand von Schirach bekommt alles im Stück „Gott“ zudem einen verbürgten Reality-Charme. Das Thema Sterbehilfe exerziert von Schirach an Richard Gärtner durch: 78, Witwer, psychisch und physisch gesund, aber ohne seine zuvor verstorbene Frau möchte er nicht mehr weiterleben – und möchte vor Gericht erstreiten, dass er vom Arzt ein tödliches Gift erhält:

„Das Leben bedeutet mir nichts. Ich will nicht irgendwann ins Krankenhaus. Ich will nicht sabbern. Ich will als ordentlicher Mensch sterben.“

Nacheinander wird das Gericht nun dazu drei Experten aus dem nationalen Ethikrat befragen, und schnell ist klar, dass hier eigentlich drei Diskurse vorgeführt werden – in Gestalt einer Verfassungsjuristin, eines Arztes und eines Bischofs. Wie stichhaltig – oder eher: fatal widersprüchlich? – sind die Positionen von Juristerei, Medizin und Katholizismus also beim Thema Suizidbeihilfe?

Das Recht macht hier noch die beste Figur, darf die Expertin doch Grundunterscheidungen einführen, die zum Verständnis nötig sind – um sogleich die verwirrenden Widersprüche zu erläutern: Suizid ist straffrei, Beihilfe durch Angehörige auch, durch Ärzte oder Palliativmediziner wiederum nicht, als Behandlungsabbruch schon, nicht aber durch aktives Giftverabreichen.

Schlimmer kommt der Ärztevertreter weg: Er findet, gegen die ärztliche Giftspritze spreche die Menschenwürde – und Gärtners Anwalt fragt nur lakonisch, auf welche Alternativen die Menschen dann ausweichen würden, wenn sie kein Gift vom Arzt bekämen?

„Ist es besser, die Menschen auf Stricke, Messer, Sprünge aus Hochhäusern und anderen grausamen Irrsinn zu verweisen?“

Den größten Irrsinn verzapft freilich der Bischof, wenn ihn Gärtners Anwalt in die Mangel nimmt. Bischof Thiel hält die Menschenwürde hoch: Das Leben sei ein Geschenk Gottes, wir seien frei durch Jesus, der durch den Kreuzestod die Erbsünde getilgt habe… Wenn Gott so liebenswürdig sei, warum hat er das Theater um Adam, Eva und Jesus angezettelt, anstatt die Menschen von vorneherein zu lieben, fragt Gärtners Anwalt den Bischof spitz…

„Ich kann nur wiederholen, was im Katechismus steht. Die Weitergabe der Erbsünde ist ein Geheimnis, das wir nicht völlig verstehen können. – Der Katechismus wieder, ja, ja.“

Religiöse Menschen dürften dem Autor hier atheistischen Aktivismus vorwerfen, der solch dunkles Gerede und religiöse Pfründe endlich aus Ethikkommissionen heraushalten will. Dennoch ist das Stück so ausgewogen, dass der Bischof auch ganz weltliche Bedenken äußern kann: Womöglich gäbe es bald einen normativen Sog zum Suizid, erlaubte man die aktive Sterbehilfe?

„In sehr kurzer Zeit würde der Druck auf alte Menschen wachsen, sich umzubringen. Die jungen werden sagen, die alten seien eine Belastung, sie kosten viel Geld, sie verbrauchen Ressourcen.“

„Gott“ im Titel des Stücks steht hier stellvertretend für die allseits versuchte Letztbegründung in einem Streit der Fakultäten. Aber auch für anmaßende Götter in weiß und religiöse Würdenträger, die vom grünen Tisch über das Schicksal leidender Menschen entscheiden wollen. Ihr Mansplaining wird manches Mal allerdings von respektlosen Gags konterkariert:

„‘Die christliche Kirche hat in der Gesellschaft noch immer ein Wächteramt.‘ – ‚Das klingt nach Game of Thrones!‘“

Angeblich sollen die Sachverständigen pointiert reden, weil man gegenüber einer zugeschalteten Netzöffentlichkeit verständlich sein möchte. Dennoch regnet es bisweilen Fakten, zum Beispiel zur Sterbehilfe in der Schweiz.

„Es gibt dort sechs Sterbehilfeorganisationen. Die größte, Exit, gibt es seit mehr als 30 Jahren, sie hat 120.000 Mitglieder. Drei Viertel der Bevölkerung befürworten oder akzeptieren organisierte Suizidhilfe…“

Manchmal wirkt das Setting künstlich: Es gehe von vorneherein um eine ethische Frage, keine juristische Entscheidung, erklärt die Vorsitzende im Gericht zu Anfang. Fast scheint es, als sei Ferdinand von Schirach beim Schreiben vom Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Frühjahr überholt worden: Damals entschied man höchstrichterlich, dass die geschäftsmäßige Beihilfe zum Suizid erlaubt sei. Das Grundproblem jedoch bleibt – auch im Stück: Wem gehört unser Leben?

„Gehört es einem Gott? Gehört es dem Staat? Der Gesellschaft, der Familie, den Freunden? Oder gehört es nur uns selbst?“

Auf diese eindrücklich herausgeschälte Grundfrage folgt ein sehr ambivalentes, offenes Ende – aber auch das kennen eingefleischte Fans des Autors. Die Literatur fällt keine höchstrichterlichen Entscheidungen, sondern regt im Idealfall äußerst differenziert zum Nachdenken an – so wie hier, in einem Text zwischen Gerichtsdrama, dokumentarischem Theater, Volksuniversität und existentialistischer Zeugenschaft.

Rezensiert für das SWR2 Lesenswert Magazin.

Das Hörbuch ist im Hörverlag erschienen.