Die dunkle, gewalttätige Seite in den menschlichen Beziehungen interessiere sie eben sehr, sagt Alice Sebold, die immer wieder Tabuthemen aufgreift. In ihrem neuen Roman geht es um einen Muttermord. Alice Sebold hat bei US-Kritikern in der Vergangenheit Begeisterungsstürme entfachen können. Sie schilderte in ihren Romanen vor allem die Opfer von Gewalt, zum Beispiel ein vergewaltigtes 14jähriges Mädchen. Nun ist es eine Tochter, die ihre Mutter bis an die Grenzen der Belastbarkeit pflegt. Pascal Fischer hat sich mit der Autorin über das Buch unterhalten.

“Ich denke, ich habe das geschrieben, weil ich dieses idealisierten Beziehungen zwischen Muttern und Töchtern in den USA so satt habe. Diese Hallmark-Grußkarten mit ihrer Mutter-Tochter-Liebe richten mehr Schaden an, als Gutes zu tun. Wir begreifen nicht, dass in intimen Beziehungen auch Hass steckt. Wir denken nur an Liebe, Liebe, Liebe. Das ist unrealistisch!“

Mit einem drastischen Realismus hebt deshalb das neue Buch von Alice Sebold an: Helen Knightly ist 49 Jahre alt und kümmert sich seit Jahren um ihre 88jährige Mutter Clair. Clair beleidigt Helen ständig, weiß ihre Hilfe nicht zu schätzen. Ist das die Demenz, oder der Hass? Bevor das dem Leser klar wird, drückt Helen ihrer Mutter kurzerhand ein Kissen auf das Gesicht und erstickt sie. Darin liegt nun die Stärke dieses Buchs: Die Geschichte gerade nicht in melodramatischer Krimi-Manier im Mord enden zu lassen.

„Der Mord entriegelt die Tür zu einer Flut von Erinnerungen. Das erlaubt einen Blick auf ein ganzes Leben. Mir ist es nicht wichtig, ob die Leser Helen mögen, sondern ob sie Helen verstehen. Es ist einfach, jemanden zu mögen oder nicht zu mögen. Eine Person zu verstehen, das ist die Herausforderung.

Der Mord eröffnet auch die Beziehung zum Körper der Mutter – eine Beziehung, mit der man in den USA auch überhaupt nicht umgehen kann. Helen lernt, diesen Körper zu lieben, indem sie ihre tote Mutter badet. Hier ist Intimität möglich. Oft sind Beziehungen kaputt, wenn beide leben. Wenn einer stirbt, erlebt man die wahre Intimität.“

Mit einer geradezu unheimlichen Präzision schildert Sebold die Zeit, in der Helen ihre Mutter entkleidet, sie ins Bad tragen will, unter ihrer Last zusammenbricht – Details, die beim Thema Tod oder Mord bei anderen Autoren oft hinter wenigen Sätzen im bequemen Zeitraffer verschwinden. Sebold blendet immer wieder über in die Vergangenheit, in der sich die Mutter als paranoid und depressiv erweist. Ein Schicksal, so die Botschaft des Buches, das sich bis in die 3 Generation auswirkt.

„Eltern sind immer gegenwärtig, ob sie nun anwesend oder abwesend oder tot sind. Das ist ein Fluch. Die Eltern bestimmen Dein Schicksal total. Das heißt nicht, dass Du keinen eigenen Willen hast. Aber oft entwickelst Du ihn erst in der Beziehung zu dieser Bestimmung.“

Mit geradezu kaltblütiger Logik will Helen den Mord in den folgenden 24 Stunden vertuschen. Allerdings handelt sie immer wieder kopflos, ruft ihren Exmann an, hat Sex mit einem jungen Nachbarn, fährt ziellos mit dem Auto durch die Gegend. Leider wirkt das oft unzusammenhängend. Eine unheimliche, unbewusste Schicksalsbestimmung oder eine echte Verzweiflung vermitteln sich hier gerade nicht. Schade, denn das fällt hinter den grandiosen Romanbeginn zurück.