Manchmal sind Arbeitsvermeidungsstrategien äußerst ergebnisreich, was beim Kulturjournalisten Andreas Rosenfelder, Jahrgang 1975, der Fall gewesen scheint: Während seines Universitätsabschlusses flüchtete Rosenfelder oft nächtelang in die virtuellen Welten von Computerspielen. Er war davon so nachhaltig fasziniert, dass er nun ein Buch geschrieben hat, das die kulturellen Wurzeln des Computerspiels freilegt und in Form von 10 Reportagen und Feuilletons das Computerspiel als Gesamtkunstwerk des 21. Jahrhunderts aufscheinen lässt, vor allem als Bündelung von Musik, Film und Buch. Das verleiht einer Diskussion Tiefe, die gerade in den deutschen Massenmedien von killerspiel-phobischen Politikern und Journalisten unsachlich flach gehalten wird, meint Pascal Fischer, der sich mit Andreas Rosenfelder über „Digitale Paradiese“ unterhalten hat.

In den 80ern und 90ern fielen Computerphilosophen in rauen Mengen in die Populärkultur ein: Cyberpunk-Romane und Filme wie die „Matrix“ zeigten uns eine Welt, in der das Bewusstsein in virtuelle Räume transferiert wird, Räume der unendlichen Vernetzung. Die Mär einer gänzlich neuen Medienzukunft ist von gestern, diesen Eindruck gewinnt man in Andreas Rosenfelders Buch „Digitale Paradiese“. Erst jetzt ist die Sicht frei auf ein Computerzeitalter ohne überdrehte Visionen, aber mit der Sicht auf die lange Tradition, in der Computerspiele stehen.

„Man kann wirklich davon sprechen, dass die Computerspiele so etwas wie die führende Kulturindustrie geworden sind in den letzten Jahren, um den alten Begriff von Adorno zu verwenden. In der Branche geht man davon aus, dass man in 5 bis 10 Jahren mehr Umsatz machen wird, als Musikindustrie und Filmindustrie zusammen. Das ist nur die eine Seite. Die andere, für mich interessantere Seite ist die kulturelle Seite, dass alles, was sich an Themen, Motiven und Formen in zweitausend Jahren abendländischer Geschichte akkumuliert hat, ein neues Gefäß findet.“

Rosenfelder reist zu osteuropäischen Software-Schmieden, blickt Teilnehmern von Computerpartys über die Schulter und beschreibt lebhaft seine eigenen, vor dem Monitor durchwachten Nächte. Immer wieder arbeitet der Autor heraus, wie die Spiele eben kein Fluchtpunkt angeblich eskapistischer, fauler Jugendlicher sind: Abenteuerwelten wie Second Life oder World of Warcraft fordern einen Geschäftemacher, einen Kämpfer, einen Eroberer unbekannter Räume, eine Figur, die sich ständig weiterqualifiziert. Sogar, wenn man in angeblich subversiven Spielen Mafiabosse, Schulhofschläger oder Graffiti-Sprayer dirigiert.

„Wenn man sich mal selber an ein Computerspiel macht, merkt man ganz schnell, dass dort ein gnadenloses Leistungsprinzip regiert, das es mit dem Leistungsdruck der realen Welt durchaus aufnehmen kann, dass eine regelrechte Leistungsethik kultiviert wird, wie sie Max Weber ja für das protestantisch geprägte Abendland beschrieben hat; dass es massenweise Jobs, Aufgaben, Missionen gibt, selbst wenn es um Gangsterspiele, Mafiaspiele geht. Das sind quasi bürgerliche Karrieren, die man da mit seinen Helden nachvollziehen muss, die ein sehr hohes Maß an Disziplin abverlangen. Insofern sind auch Computerspiele, die in scheinbar verdächtigen Milieus spielen, oft viel näher dran am klassischen Bildungsroman, als man meinen könnte.“

Kriminelle oder verborgene Milieus sind seit jeher die Handlungsorte von Bildungs- oder Jugendromanen, man denke nur an die sadistischen Spiele in Robert Musils „Törleß“. Fiktionale Welten, ob in Buch- oder Spielform, lehren die Jugendlichen, wie sie sich in verschiedenen Lebenswelten verhalten können. Was der Bildungsbürger bei seiner Jugendlektüre genossen hat, sollte er nicht den neuen Medien vorwerfen. Mönchszellen und Schreibstuben von Schriftstellern fänden ihre Fortsetzung in den abgedunkelten Kinderzimmern mit PCs.

„Es sind kleine Spitzen gegen ein affektiertes Bildungsbürgertum, das die Welt der Computerspiele nur als Trash und Zeitverschwendung bewertet. Dazu kommt auch, dass ich skeptisch bin gegenüber einer Rhetorik des ganz Neuen. Das glaube ich nicht. Da gibt es ein stärkeres Beharrungsvermögen in der menschlichen Kultur. Also ist die Traditionslinie von den mittelalterlichen Mönchen bis zu den Gamern der Gegenwart durchaus mehr als nur eine polemische Pointe.“

Rosenfelders Strategie, den Diskurs nicht nur auf befürchtete Verrohungseffekte, sondern auf kulturelle Wurzeln zu lenken, ist fruchtbar. Damit ärgert er die Pessimisten und überrascht die Spieler, indem er ihnen Bildungseffekte und die kulturelle Evolution attestiert: Viel konkreter als in Film, Oper oder in der Literatur agieren wir Konflikte am PC symbolisch aus. Das Game – eine zivilisatorische Errungenschaft, und zugleich mehr als bloße Brettspiele: Als das Gesamtkunstwerk des 21. Jahrhunderts wird es zum Erfahrungsreservoir einer globalen Erinnerungskultur; dafür sprechen die  Spiele über römische Schlachten oder über die Landung der Alliierten in der Normandie. Detailreich zeigen sie den Enkeln, wo die Großväter einst gekämpft und gelitten haben. Mit einem gewichtigen Unterschied allerdings zu anderen Medien: Kriegsspiele folgen immer einer Heldenerzählung.

„Ja, da muss man sagen, dass es einfach jede Menge von schlechten Kriegsspielen gibt, die wirklich auf simpelste Weise dem Spieler irgendwelche Missionen aufgeben, die er dann sozusagen in blindem Gehorsam auch erfüllt, so dass sich ein reflexiver Abstand zu diesem Kriegsgeschehen überhaupt nicht einstellt, während man das im Kino ja schon seit großen Werken wie ‚Apocalypse now’ hat, dass dieser absurde und nihilistische Aspekt des Krieges auch fühlbar gemacht wird.
So etwas wie eine Identifikation im vollen Sinn, wie sie das Kunstverständnis seit der Antike geprägt hat, so eine Form von Identifikation ist im Bereich der Computerspiele einfach noch nicht möglich. Es gibt noch nicht viele Computerspiele, in denen man mit den Helden empfindet. Meistens sind es Kunstfiguren, die man im Zweifelsfall gerne opfert und nicht unglaublich traurig ist, wenn die bei irgendeinem Abenteuer ihr Leben verlieren. Das ist ja ein altes Gesetz der Computerspiele, dass man dann ein neues Leben bekommt.“

Der Autor streift die Entstehungsgeschichte, wenn er berichtet, wie aus Radarbildschirmen und Rechnern frühe Konsolen entstanden: „Zweckentfremdung von Heeresmaterial“ – die These von Friedrich Kittler steht mehr als einmal zwischen den Zeilen. Eine historische Abhandlung sollte man aber nicht erwarten, eher einen klugen Erlebnisbericht und ein geistreiches Feuilleton. Sympathisch vor allem durch die doppelte Polemik gegen selbsternannte virtuelle Apostel und zwanghafte und schlecht informierte Killerspielgegner. Wer einmal übernächtigt und frustriert den Rechner ausgeschaltet hat, meint Rosenfelder im Interview lakonisch, glaubt kaum an ein digitales Jenseits oder die teuflische Allmacht des neuen Mediums. Virtuelles und Reales, so das Fazit, lassen sich sehr wohl unterscheiden.

„Da ist die Gefahr, dass man das eine mit dem anderen verwechselt, doch verhätlnismäßig gering. Es ist letztlich doch ein Medium wie ein Buch, das in dem Moment, in dem man es zuschlägt, zum bloßen Objekt wird. In dem Moment, wo man Rechner runterfährt, verschwindet diese Welt auch vollständig wieder.“ 

…meint Andreas Rosenfelder. Sein Buch „Digitale Paradiese. Von der schrecklichen Schönheit der Computerspiele“ ist bei Kiepenheuer und Witsch erschienen, hat 192 Seiten und kostet 8 Euro 95.

(für den Büchermarkt im Deutschlandfunk)