Olga Martynova legt mit „Mörikes Schlüsselbein“ einen intelligenten, verspielten Text vor. Es ist eine Reise durch Länder und Genres.
Sie ist in der Literaturszene Deutschlands mittlerweile eine Größe. Eine beachtenswerte Leistung, ist Olga Martynova doch eigentlich in Sibirien geboren und 1991 mit ihrem Mann, dem Autor Oleg Jurjew, aus St. Petersburg nach Frankfurt gezogen und damit keine Muttersprachlerin. Ihre Lyrik schreibt sie nach wie vor auf Russisch, ihre Prosa dagegen auf Deutsch, und das mit großem Erfolg: Ihr Debutroman „Sogar Papageien überleben uns“ schaffte es 2010 auf die Longlist des Deutschen Buchpreises, und spätestens mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis im vergangenen Jahr wurde Olga Martynova einer größeren Öffentlichkeit bekannt. Einhellig lobte die Kritik ihr Sprachgefühl, ihren Wortwitz und den Anspielungsreichtum in „Ich werde sagen: Hi!“, einem Kapitel des nun erschienenen Romans „Mörikes Schlüsselbein“. Pascal Fischer hat sich mit der Autorin darüber unterhalten.
Kaum hat der Schüler Moritz bei einem Museumsbesuch in Tübingen in einer Vitrine Mörikes Schlüsselbein gesehen, fängt er Feuer für die Literatur und beginnt bald selbst, seine Innenwelt schreibend zu erkunden. Am Ende aber stellt sich heraus: Der ausgestellte Knochen war wohl eine Fälschung. Nur ein Handlungsfaden von fast unüberschaubar vielen, in dem Olga Martynova geschickt ihren leisen Humor mit der Tiefe des Lebens verbindet.
„Das ist wie vieles in der Literatur, aber auch im Leben: Der Anlass kann sehr gering sein, aber dieses geringe Ding kann Anlass zu etwas sein, was wirklich Ernst ist. Anna Achmatova, die große russische Lyrikerin, hat einmal geschrieben: Wenn Sie wüssten, aus welchem Müll die Gedichte wachsen. Das ist tatsächlich so!“
Das Kapitel über Moritz hatte sich schlicht von der Länge her für die Lesung im Wettbewerb letztes Jahr geeignet, lächelt Olga Martynova, deshalb habe sie es ausgewählt. Allerdings scheint es nach Lektüre des Romans auch das vorraussetzungsloseste, denn in diesem unmöglich zusammenfassbaren Kaleidoskop geht es erfrischend wild zwischen Orten und Zeiten hin und her: Neben Moritz und seiner Schwester Franziska taucht als dritte Künstlerfigur Fjodor auf, ein trinkender Bohemien-Schriftsteller im St. Petersburg des vergangenen Jahrhunderts. Als Anker im Strudel dienen Moritz‘ Vater Andreas und seine Partnerin Marina – bekannt aus Martynovas Erstling; Moritz‘ Vater schreibt ein Buch über die Deutschen im Russland des 19. Jahrhunderts und führt Migrantenmotive ein; Marina reist für einen internationale Kulturfonds durch die Welt, so werden Berlin, Chicago, das amerikanische Kernland oder St. Petersburg zu farbigen Schauplätzen. Alles scheint hier geschaffen mit einer maximalen diskursiven Andockfähigkeit. Mehr noch:
„Das ist so, dass diese Kapitel in verschiedenen Stilistiken geschrieben sind. Und das war für mich auch ein Reiz, künstlerisch. Und ich meine, dass das eine sehr interessante Aufgabe ist. Es sind auch verschiedene Gattungen: Wir haben eine Familiengeschichte, einen Entwicklungsroman, ein bisschen Fantasy, eine Agentenstory – genau das wollte ich.“
Das bereitet den großen Themen aufflammende Liebe, Alter, Tod, Trauer, Kunst und Leben einen lebendigen Zugang. Einmal etwa landet Fjodors Übersetzer John als Agent mit mysteriöser Mission per Zeitmaschine in einer abgelegenen Eingeborenengesellschaft, ein selbstironischer Kontrapunkt zur internetartigen Vernetzung aller Motive im Buch. Martynovas Beobachtungsgabe zeigt sich meist schon auf der Satzebene: Nicht Andreas liest ein Buch, sondern das Buch „liest sich selbst“. Oder: „Die Autos sind die Geister der Bisons, aus der Perspektive der einstigen Prärie“. Atemberaubend konstant biegt Martynova vor dem Naheliegendem ab zum Ungewohnten.
„Ich kann nicht anders! Ja, das ist für mich natürlich, ich kann mir nicht vorstellen, wie es anders geht beim Schreiben!“
Ein belebendes Lesevergnügen! Ein Bewusstseinsstrom neuer Prägung, der sich gekonnt vor der reichen avantgardistischen Tradition der deutschen und russischen Literatur verneigt!