Roberto Bolaño gilt einigen Literaturliebhabern als García Márquez und Vargas Llosa ebenbürtig. Obwohl schon vor einigen Jahren im Alter von 50 Jahren gestorben, tauchen aus dem Nachlass immer wieder Überraschungen auf. Zum Beispiel der Roman „El Tercer Reich“, zu deutsch: das Dritte Reich. Das Genie kündigt sich hier schon an – aber nur ein wenig.
Postum veröffentlichte Frühwerke sind so eine Sache: Sie können ein Genie im Entstehen zeigen, oder eben jenes spätere Genie entzaubern. „Das Dritte Reich“ zumindest beginnt recht beschaulich: Wir lernen Udo Berger kennen, einen 25jährigen Angestellten der Stuttgarter Elektrizitätswerke. Mit seiner Freundin Ingeborg fährt er irgendwann in den Achtziger Jahren in den Urlaub an der spanischen Costa Brava. Dem Roman zugrunde liegt Udos Tagebuch ab Urlaubsbeginn – was dem Roman eine für Bolaño sonst untypische Chronologie gibt. Zudem weiß der Leser nicht so recht, ob die unbeholfene, rhythmisch verstolperte, inhaltlich manchmal einfältige Sprache absichtlich von Bolaño so formuliert wurde, oder ob sich hier schlicht ein unredigiertes Frühwerk offenbart.
„Was wird aus unserer Beziehung werden? Ich sage das, weil die Beziehungen unter jungen Leuten heute so unbeständig sind. Ich will nicht lange darüber nachdenken. Ich bin mehr fürs Liebevolle: Sie lieben und beschützen. Sicher, wenn wir am Ende heiraten, umso besser. Ein Leben lang an Ingeborgs Seite, was könnte ich mir auf Gefühlsebene Schöneres wünschen?“
Hier deutet sich schon einer der zahlreichen, untergründigen Konflikte des Romans an – der um die Vorherrschaft in der Beziehung. An vereinzelten Stellen, vornehmlich in Udos Alpträumen, kann Bolaño sein Talent zum Unheimlichen und Surrealen andeuten. Zum Beispiel träumt Udo sich in einem Zimmer mit Ingeborg, es klopft laut an der Tür, Ingeborg will sie auf keinen Fall öffnen und hält Udo von der Tür fern.
„Im Ringen fiel Ingeborg zu Boden. Ich betrachtete sie von oben, sie war wie betäubt, hatte die Beine weit gespreizt. Jeder könnte dich jetzt vergewaltigen, sagte ich, und daraufhin öffnete sie ein Auge, nur eins, das linke, glaube ich, riesig und knallblau, das mich nicht ausließ, das mich überallhin verfolgte.“
Ein doppeltes Vergewaltigungsmotiv, gepaart mit einem Verweis auf Edgar Allan Poes „Das verräterische Herz“ – in kleinen Details zeigt sich schon hier Bolaños Kunstfertigkeit. Und je weiter die Geschichte fortschreitet, desto mehr unterschwellige Bedrohungen überschatten den Urlaub. Da begehrt Udo die Wirtin des Hotels, das er mit seiner Familie seit seiner Kindheit besucht hat, mit quasi-inzestuöser Insbrunst. Dann lernt das Pärchen ein einheimisches Männerduo kennen, genannt „El lobo“ und „El cordero“. Schon die Namen, Wolf und Lamm, stehen für die Ambiguität dieser undurchschaubaren Kerle, die das deutsche Paar zwar in eine authentische Disko lotsen, aber bald in eine Schlägerei geraten. Schließlich freunden sich Ingeborg und Udo mit einem anderen Urlauberpärchen an, doch dessen männliche Hälfte, Karl, kehrt irgendwann nicht mehr vom Surfen zurück. Unaufhörlich nährt Bolaño das Gefühl, Karl könne ermordet worden sein, oder die hiesige Polizei pfusche bei den Ermittlungen, und kreiert eine unwirkliche Atmosphäre der Verlorenheit im Ausland. Das Oberthema „Entfremdung“ allerdings ist zu diesem Zeitpunkt längst eingeführt. Denn Udo ist ein vielfach preisgekrönter Meister von Brettspielen zum Zweiten Weltkrieg, über die er die Wirklichkeit draußen vergessen kann. Dann breitet er im Hotelzimmer Karten auf dem Tisch aus und spielt gegen sich selbst – ein gelungenes postmodernes Sinnbild für Solipsismus und innere Konflikte.
„Allgemeines zur 3. Runde, Frühjahr 1940. Frankreich bezieht die klassische Front auf den Hexagonen der Reihe 24 und eine zweite Kampflinie auf denen der Reihe 23.(…) Von den drei Panzerkorps dürfte das eine vermutlich auf O22, das andere auf T20 und das dritte auf O23 zu finden sein.“
Solche seitenlangen, detaillierten, besessenen Passagen zu Aufstellungen und Spielzügen zeugen davon, dass auch Roberto Bolaño ein glühender Fan von Spielen wie „Rise and Decline of the Third Reich“ war, das es wirklich gibt. Hier treten Achsenmächte gegen Alliierte an – mit ungewissem Ausgang. Solche Spiele belegen ebenso, wie man schon vor zwei bis drei Jahrzehnten ganz ohne PC ins Virtuelle abtauchen konnte. Auch Udo merkt kaum, dass alle um ihn herum, selbst Ingeborg, abreisen. Stattdessen lädt er einen Einheimischen zum Brettspiel-Duell, „El Quemado“ nennt der sich, „Der Verbrannte“, ein armseliger Tretbootvermieter, der nachts am Strand schläft.
„Ich eröffnete die erste Runde und erklärte jeden meiner Schritte, so dass der Verbrannte begriff und die Eleganz schätzen lernte, mit der meine Panzer die polnischen Stellungen niederwalzten.“
Udos gönnerhaftes Herrenmenschentum kippt schnell um in Fassungslosigkeit, als der Verbrannte das Spiel in der Rolle der Alliierten zunehmend beherrscht und schließlich gegen Udos Drittes Reich gewinnt. Sinnbild für eine psychohygienische Intervention, die Udo aus seinem Solipsismus reißt? Für eine kathartische Heilung eines geschichtlich-schuldbeladenen Deutschen, der allzu unbelastet ins europäische Ausland reist? Nicht zufällig entpuppt sich „der Verbrannte“ als Exil-Südamerikaner und ehemaliges Folteropfer – als Gestalt, die den gedankenlosen Udo blitzartig sensibilisiert für den Habitus des Generalfeldmarschalls, den dieser typisch deutsche Tourist noch hat, wenn er die Zimmermädchen herumkommandiert. Spielzüge, Träume, Halluzinationen und Paranoia gehen hier ineinander über, so dass uns dieser mehr als zwanzig Jahre alte Text zuruft: Das faszinierendste Medium der virtuellen Simulation ist immer noch die Literatur! Die Grenzverwischung und Ambiguität nimmt allerdings zum Ende hin wieder ab. Udo kehrt schließlich wie geläutert nach hause, die Beziehung zu Ingeborg ist erkaltet. Udo kann auf einem letzten Spielerkongress seine frühere Welt nicht mehr begreifen.
„Ich für meinen Teil kam zu dem Schluss, das achtzig Prozent der Redner psychiatrische Hilfe nötig hatten. Um mich zu trösten, wiederholte ich mir in einem fort, dass sie harmlos waren, und schließlich fand ich mich damit ab, weil es das Beste schien, was ich tun konnte.“
Ein ziemlich schöner Schluss. Die bedrohliche Atmosphäre reicht stellenweise an den „Lumpenroman“ heran, aber wer nach den Lektüreerfahrungen von „Stern in der Ferne“ oder „2666“ bestialische Morde und andere Exzesse in dieser Bolaño-Keimzelle erwartet, wird enttäuscht. Ob der Autor sich noch nicht traut, oder vorsätzlich brav dem gutbürgerlichen ästhetischen Prinzip folgt, Andeutungen seien per se viel literarischer als Explizites – man weiß es nicht. Selbst sensiblere Gemüter werden aber merken, dass diese Andeutungen sich oft in Trägheit verkehren in diesem Roman. Trotz aller dämonischen Genialität eine kleine Entzauberung.
Roberto Bolaño: Das Dritte Reich. Das Buch ist in der Übersetzung von Christian Hansen im Verlag Carl Hanser erschienen. 320 Seiten kosten 21,90 Euro.
(für SWR2 Forum Buch)