Wie um Himmels willen kann jemand unbeschadet von Weihnachten erzählen? In unserer Zeit heißt das doch: Unausweichlicher Adventsrummel in der Fußgängerzone. Warenberge versprechen Trost und Erlösung. Flügel haben nur diejenigen, die Energiedrinks konsumieren und Jesus ist ein Musical-Superstar. Wieder andere erfreuen sich allzu naiv an klebrig-süßen Weihnachtsmärchen im Stile von Charles Dickens. Wer soll da Wunderbares aushalten, geschweige denn glauben, zumal der Evangelistenkniff, sich auf alttestamentarische Prophezeiungen zu berufen, doch als veraltet gelten dürfte? Antje Ravic Strubel hat es da einfach: Im Vorwort ihres neuen Buches klärt sie uns augenzwinkernd darüber auf, dass die Erzählungen gar nicht von ihr stammen, sondern von einem besessenen Fan…
„Dieser Stalker ist wie eine romantische Figur, wie ein Schatten oder Doppelgänger. … Der tut so, als schriebe er wie ich. Es gibt immer wieder Leute, die auf Lesungen auftauchen, die etwas in einem Text lesen, was sie ganz eng mit ihrem eigenen Leben verbinden. Die eine Antwort für ihr Leben suchen. Das ist bei diesem Stalker ja auch so: Das setzt unglaubliche Energien frei. Man entwickelt dann Besessenheiten, um Antworten zu finden. Das ist sein Thema.“
Dieser Mann, ein ostdeutschen Wendeverlierer Ende fünfzig, so die Annahme, sei von Frau und Kindern verlassen worden, da habe ihn eine Lesung Ravic Strubels geradezu errettet. Er habe Weihnachtsgeschichten unter ihrem Namen veröffentlichen wollen, schließlich habe er sich ihr geistesverwandt gefühlt. Das sei allerdings aufgeflogen, und der Verzweifelte untergetaucht. Antje Ravic Strubel halte seinen Stil zwar für missglückt, aber habe nun alles zusammen mit den Tagebuchaufzeichnungen des Mannes veröffentlicht. Pikanterweise wisse der Stalker viel über ihr Leben, so dass er die Episoden aus der Ichperspektive der Figur Antje Ravic Strubel erzählt. Eine abenteuerliche Volte, aber nur so lässt sich Weihnachtliches am Adventsrummel und am Kitsch vorbei in die Literatur retten.
„Es war eigentlich eine Herausforderung mit diesem Thema…Ich will auf keinen Fall sentimentale Geschichten über das Kerzenfest schreiben. Ich will das aber auch nicht total sarkastisch fertig machen. Dazu ist mein Verhältnis zu Weihnachten relativ unverkrampft. Ich glaube, wenn man eine bestimmte Sprache findet, kann man alles machen. Aber es ist ganz schwierig, bei Weihnachten eine Sprache zu finden, die dem Kitsch entkommt.“
Was trotzdem gelingt. Keine mahnende konservative Kulturkritik und kein grelles Buch voller Tabubrüche hat sie geschrieben, sondern erzählt in leisem, einfachen Ton Geschichten von Problemen im Leben. Mal will der Vermieter die Erzählerin rauswerfen, mal muss sie sich für ihren Chef ein besonders weihnachtliches Marketingkonzept für Mode einfallen lassen. Immer wieder hilft ihr eine unverwüstliche, berlinernde Freundin vom Dorf aus. Engelsgleich ist sie in der Not zur Stelle. Die Erzählungen haben einen realen Hintergrund, erzählt Ravic Strubel:
„Es gibt einen kleinen Bruder, dem ist dieses Buch auch gewidmet. Der hat mich tatsächlich vor zehn Jahren darum gebeten, doch zu Weihnachten ihm immer eine Weihnachtsgeschichte zu schreiben, was ich abgelehnt habe. Was mich vor große Probleme gestellt hat, weil er darauf bestanden hat: Ich sei doch schließlich Schriftstellerin. Das ist ein Stück Realität, wenn man so will.“
Ein kleiner Bruder taucht tatsächlich mitten in den Erzählungen auf und fordert kreative Plots ein. Weihnachtlich sollen sie sein, trotzdem spannend, eben „Abenteuergeschichten zum Fest“. Die große Schwester sucht verzweifelt im Lexikon nach Ideen, findet das Wort „Gen“, und das führt weiter: Ihre weise Freundin vom Dorf schenkt ihr nämlich genmanipulierten Lebertran ein. Von dem wachsen ihr Flügel, und schon gibt es eine abenteuerliche Adventsgeschichte zu erzählen. Ein andermal finden sich die zwei plötzlich in einem Monstertruck in einer Wüste wieder und schlürfen eisgekühlten Glühwein. Da ist wiederum die Freundin gespannt, wie die Erzählerin das nun wieder zu einem vernünftigen Ende bringen will. Der Leser kann also mitverfolgen, wie die Erzählerin an der Geschichte schreibt, die sie gerade erlebt. Überall herrscht Fiktion, und nur deshalb wirken die wunderlichen Pointen – seltsam glaubhaft.
„Man könnte diese Weihnachtsgeschichte ja mal ernstnehmen und sich fragen: Was hat der Autor für Tricks und Kniffe verwendet? Auch da kippt es vom Realistischen ins Phantastische. Das war der Anlass, diese Weihnachtsgeschichten so anzulegen…Immer wieder gibt es diesen Dreh ins Wunderbare, Phantastische. Es ist eigentlich sehr wichtig, dass man auf Erzählungen zurückgreift, die eine Kultur bilden, aber auch, dass man sie ausweitet, dass man sie versucht zu öffnen, weil es nur dann das intensive Gefühl gibt, sie zu erleben, dass man versucht, neue Elemente einzufügen.“
In der Tat: Eine engelsgleich erscheinende junge Frau verkündet nicht die Ankunft des Messias, sondern lockt die Erzählerin zum beglückenden Roulettespiel. Es schwärmen zwar keine kindsmordenden Römer aus, wohl aber Stadtbedienstete in oranger Müllmännerkleidung. Sie fangen Obdachlose in der Hauptstadt ein, und setzen sie Kilometer entfernt in der ostdeutschen Landschaft aus, damit sie keinen Weihnachtsmarkt mehr stören.
Die Erzählerin und ihre Freundin fühlen sich nicht wie die Kinder in der Welt Gottes, sondern eher wie Figuren im Hirn eines ganz anderen Menschen – und ahnen, dass sie Geschöpfe des Stalkers sind. Womit sich der Kreis des Erzählens schließt. Nur fast, denn der untergetauchte Fan begreift ja am Ende, dass er es nicht geschafft hat, aus seinem gescheiterten Leben in die Schriftstellerei zu fliehen. Schließlich beginnt er, sich an sein Leben zu erinnern und nimmt es an.
Erinnern, annehmen? Vielleicht wäre das auch mit der Weihnachtstradition möglich? In so geistreichem und ironischem Gewande darf das ruhig mal gefragt werden. Hinter allen postmodernen Spiegeln darf man bei Ravic Strubel auch mal gerührt aufschluchzen. Aber nur ganz kurz!
„Vom Dorf. Abenteuergeschichten zum Fest“ heißt das Buch von Antje Ravic Strubel beim Deutschen Taschenbuch Verlag. Es hat 200 Seiten und kostet 12 Euro.
Rezensiert von Pascal Fischer für die SR2 Bücherlese.