Wer mag, der kann sich heute stets neu erfinden. Historisch gesehen, waren wir nie so frei und selbstbestimmt wie heute. Jeder dreht seinen eigenen Film – so hieß das dann in den 80ern und 90ern zukunftsoptimistisch. So frei wir auch objektiv sein mögen – immer mehr Menschen in der als stabil geltenden Mittelschicht fühlen sich ausgegrenzt. Der Kasseler Soziologe Heinz Bude beschäftigt sich seit Jahren mit dem Phänomen der „neuen Unterschichten“. Sein lange geplanter Sammelband trifft den Nerv einer aktuellen politischen Debatte. Wie sehr, das sagt Ihnen Pascal Fischer, der auch mit Heinz Bude sprechen konnte.
„Das Problem, mit dem wir heute zu tun haben, ist eigentlich eines, das nicht mehr so einfach auf Oben- und Unten-Kategorien zugerechnet werden kann, sondern viel mehr mit der Frage von Drinnen und Draußen zu tun hat. Vor allen Dingen haben wir es mit Labilisierungen zu tun, die durchaus auch in der gesellschaftlichen Mitte von Bedeutung sind.“
Ob Bauarbeiter als Jobnomaden oder Scheinselbständige aus der Mittelschicht: Immer länger werden die Armutspassagen, der Wohlstand scheint nur noch auf Zeit garantiert zu sein. Zuweilen muss sich der Leser in den Erläuterungen durch recht akademische Begriffsklaubereien kämpfen. Aber die bedrückenden Beispiele und faktenreichen Argumentationen liefern das nötige Anschauungsmaterial für die Grundthese, dass ein veränderter Wohlfahrtsstaat die Exklusion heraufbeschworen hat:
“Wir haben eine längerfristige grundsätzliche Veränderung unserer Wohlfahrtsstaatlichkeit, dass man immer mehr umstellt von dem absoluten Prinzip der Statussicherung, als der Richtlinie von wohlfahrtsstaatlichem Handeln, auf etwas, dass der Wohlfahrtstaat nur noch darauf achtet, dass die Leute nicht herausfallen.“
Nicht mehr als eine Garantie aufs Überleben also, dafür aber die Pflicht zu Beschäftigungs- und Fortbildungsmaßnahmen an wechselnden Orten im Monatstakt. Erhöhte Chancen auf echte Jobs sind dabei allerdings wissenschaftlich nicht belegt, zeigen zum Beispiel die Mitautoren Andreas Willisch und Rainer Land.
Stattdessen stigmatisieren diese schlecht bezahlten Scheinkarrieren die Betroffenen und bieten keinerlei Aufstiegsmöglichkeiten oder Planungssicherheit. Spätestens das Fördern und Fordern hat jenen flexiblen Niedriglohnsektor produziert, den die Wirtschaft sich so dringend wünscht.
Schon lange nehmen die Franzosen solche Entwicklungen wahr, unter anderem durch Pierre Bourdieus Buch „Das Elend der Welt“ oder die Studien von Robert Castel. Auch die Briten nutzen die „underclass“ als alarmierenden Protestbegriff. Da kommt die deutsche Unterschicht-Debatte viel zu spät, meint Bude:
“In Deutschland haben wir immer Schwierigkeiten gehabt, die soziale Frage unserer Gesellschaft zu thematisieren. Wir haben eigentlich immer bei Randgruppen-Begriffen Zuflucht gesucht, ohne zu sehen, dass wir Begriffe brauchen, die Rand und Mitte miteinander in Verbindung bringen und gleichzeitig politisierbare, sensibilisierbare Begriffe in die Diskussion werfen.“
Zu lange funktionierte die Exklusion, als dass die Mittelschicht die Probleme hätte wahrnehmen müssen. Nun wächst auch hier die Statuspanik, allerdings schneller als das tatsächliche Risiko, zu verarmen, wie Petra Böhnke zeigt. Die mittlere akademisch gebildete Elite in der Wirtschaft, so ergänzt Stefan Kotthoff, genießt oft noch den goldenen Handschlag der Frühpensionierung, landet aber auch immer früher auf dem Abstellgleis. Die Lebensleistung scheint egal zu sein.
“Ich glaube, dass diese Formel des Prekärwerdens des Zusammenhangs von Leistung und Erfolg etwas ist, was für viele, viele Leute, für viele Schichten und Personen in unserer Gesellschaft durchaus eine alltägliche Erfahrung ist: dass es nämlich nicht mehr klar ist: Welche Leistungen muss man erbringen, um welchen Erfolg zu haben?“
Was insbesondere bildungsschwache Jugendliche demotiviert, worauf Heike Solga hinweist. Vor wenigen Jahrzehnten fanden sie oft sogar ohne Berufsausbildung Arbeit – heute gilt ein Hauptschulabschluss an sich schon als Stigma. Politik und Wirtschaft lassen die Abgänger durch Berufsbildungs- und Berufs-Vorbereitungsjahre wandern, als ob es ein Bildungsdefizit zu beheben gelte, anstatt eines Mangels an Ausbildungsplätzen. Man müsse wieder mehr auf die Talente der Hauptschüler schauen, fordert Bude.
“Um auch wegzukommen von der Idee: Das ist ein Ort des Sammelns von reinen Defizitmenschen. Ich denke, der Hauptschulzusammenhang muss ein bisschen sich wieder in dieses kulturelle Bewusstsein hineinbegeben, dass man sich überlegt: Welche Dinge braucht man eigentlich, um einfache Arbeiten vollziehen zu können, um da auch ein guter Arbeiter zu sein, und welche Voraussetzung schafft das wiederum für ein einfaches Leben?“
Ähnlich ausgeschlossen aus dem Arbeitsmarkt bleiben auch die Migranten, wie Ingrid Oswald und Nicola Tietze zeigen: Aufsteiger müssten sich im Gastland vom Geruch ihres Ghettos frei machen, können es aber oft nicht, weil sie auf schützende soziale Migranten-Netzwerke angewiesen sind.
Wasserdicht belegt der Sammelband die neuen Missstände statistisch, lässt verdienstvoll auch Betroffene zu Wort kommen. Verbesserungsvorschläge sind das schwierigere Geschäft. Aber auch sie finden sich in dem Sammelband, wenn auch verstreut und ohne genauere Analyse. Da fallen dann Schlagworte wie zum Beispiel: die Arbeit gerecht auf alle aufzuteilen; Phasen der Erwerbslosigkeit zu erlauben; ökonomisch nicht verwertbare Tätigkeiten dennoch zu würdigen. Der Dienstleistungssektor biete ungeheure Potentiale bei der Betreuung von Kranken und Alten, was positiv für Beschäftigung und Konsum wäre. Und die Arbeitsagenturen sollten ihre Klienten nicht in einen repressiven Maßnahmenmarathon schicken. Zu der konkreten Umsetzung dieser viel diskutierten Lösungen hätte man gerne mehr gelesen. Bude aber gibt nur die Grundlinie vor.
“Es geht darum, Lernformen zu entwickeln, die Leuten wieder das Gefühl vermitteln können, ihr Leben in eigener Regie zu führen. Denn es ist auch eine Form, die Regie über sein eigenes Leben zu verlieren, wenn man sich in Wohlfahrtsabhängigkeit begibt und dies möglicherweise über längere Zeit und möglicherweise sogar über mehrere Generationen.“
Anstatt die Betroffenen polemisch als faul, träge und lernunwillig abzuqualifizieren, raten die Soziologen im Buch dazu, die Ausgrenzungsmechanismen selbst auszuhebeln. Denn alternativlose wirtschaftliche Entwicklungen wie die Globalisierung sehen die Autoren nur bedingt am Werk, eher die Abschottung der Ober- und Mittelschicht, welche die Exklusion betreiben. Die gesamte Diskussion führt letztlich zur Frage, was Gemeinschaft in Zukunft bedeuten soll.
“Ich glaube, man sollte wirklich diesen Begriff der Teilhabe stark machen, Vorstellungen davon zu gewinnen, was es eigentlich heißt, in unserer Gesellschaft ein anerkanntes Mitglied zu sein, und zwar bei unterschiedlichen Lebenslagen. Was braucht es eigentlich, um in unserer Gesellschaft ein würdiges Leben führen zu können. Der Begriff der Würde ist ein Beteiligungsbegriff.“
Heinz Bude und Andreas Willisch (Hg.): Das Problem der Exklusion. Ausgegrenzte, Entbehrliche, Überflüssige. 394 Seiten, erschienen in der Hamburger Edition für 35 Euro.
Rezensiert für die Politische Literatur im Deutschlandfunk.