Lange Verdrängtes muss erst mit Gewalt in das Bewusstsein eindringen, um wahrgenommen zu werden. So geschehen am 11. September 2001 in den USA: Seit dieser territorialen Verletzung muss sich das Land ernsthaft mit seiner Außenwirkung und -wahrnehmung sowie mit seinem inneren Zustand auseinandersetzen. Ähnlich geht es auch dem Harvard-Studenten Mike in Nick McDonells neuem Roman: Mit einer Reise ins Ausland beginnt für Mike ein schmerzvoller Prozess der Selbsterkenntnis, der in die Abgründe seiner Familie und die eines ganzen Landes führt.
So gerät Mike als Zeitungspraktikant auf einer Reise nach Thailand schnell an Drogenkuriere, korrupte Polizisten und Prostituierte, und bald wird klar, dass Gewalt, Ausbeutung und Drogenkriege auch durch die Massen erlebnishungriger westlicher Touristen ausgelöst werden.
Mike begegnet in Bangkok dem älteren Kollegen Christopher Dorr, der als Reporter die Idee publizistischer Aufklärung von den USA ins Ausland trägt. Dorr hat einst über gefährliche Kriegskartelle und Drogenbarone berichtet und ist untergetaucht. Er endet nun als süchtiger Zyniker in einer dreckigen Hütte. Das vermessene Ideal eines amerikanischen Wert-Exports ist gescheitert, der in seiner Identität gebrochene Dorr bezahlt seine Verblendung später mit dem Tod.
Internationale Verstrickungen bleiben hier nur der Hintergrund, vor dem Mike zur Selbsterkenntnis in der Fremde geführt wird. Er betrachtet ein altes Familienfoto.
„Als er […] das gespenstische Bild seiner Familie im Gegenlicht sah, begriff er plötzlich etwas, das ihn beunruhigte: Mike sah den Wahnsinn, der in ihm und auch den anderen angelegt war.“
Fesselnd sind die Schilderungen hier allenfalls wegen des Inhalts. Oft erzählt McDonell die reine Handlung, anstatt Orte oder das Innenleben der Figuren zu beschreiben.
Von der ersten Seite des Buches an haben Rückblicke über Mikes Familie den Roman durchzogen. Alkoholismus, Ehebruch und Wahnsinn prägen die Geschichte der Eltern, und viele Parallelen zeigen, dass der Wahnsinn der Eltern in Mike und seinem Bruder Lyle seine Wiederauferstehung feiert. Oft sind die anekdotischen Kapitel von nur einer Seite Länge leider zu sehr hingeschrieben auf eine Pointe am Ende, zum Beispiel, – Zitat – „dass man Heimsuchungen haben kann.“
Eine solche ereilt denn auch Mike. Seine Eltern kommen bei einem Wohnungsbrand ums Leben. Mikes älterer Bruder Lyle hat überlebt und phantasiert in der Psychiatrie von einem dritten Bruder, der das Feuer gelegt haben soll.
Dieser titelgebende dritte Bruder ist nur ein Sündenbock zur Vertuschung einer noch schlimmeren innerfamiliären Gewalttat, die hier nicht verraten werden soll. Er steht für die Abspaltung des familiären Wahnsinns, im Großen gar für die uramerikanische Scheidung der Welt in das Gute und das Böse, geschichtlich immer wieder wirksam geworden bei Indianern, Kommunisten oder Terroristen.
McDonell möchte das durch die unübersehbare Spiegelung des 11. September in Mikes Familie bezeugen: Beim Brand des Elternhauses knickt ein Turm ein, das Geräusch ähnelt dem eines Düsenflugzeugs. Mike wird vom eingeäscherten Fundament des Elternhauses angezogen wie von einer Ground-Zero-Miniatur. Den Twin-Towers entsprechen die Eltern, die wie Zwillinge aussehen, und Mikes Vater ist passenderweise ein Hedge-Fonds-Manager. Verdrängtes innerhalb der Familie kehrt so todesbringend wieder, wie die nationale Selbstverkennung ins amerikanische Trauma führt.
Konsequenterweise spielt der zweite Teil des Romans an jenem 11. September, in den Rauchschwaden der New Yorker Straßen. Hier sucht Mike seinen Bruder Lyle. Der hat dem familiären Wahnsinn schon früher als einziger offen ins Auge geblickt und ist angesichts der nationalen Katastrophe zum Sterben bereit.
„Ascheflocken kommen langsam und leicht herabgeschwebt, genau wie Schnee in der Winterdämmerung. Mike dreht sich wieder zu Lyle um und sieht, wie sein Bruder, das Gesicht zum Himmel gewandt, die Flocken mit der Zunge auffängt.“
Eindrucksvolle Schilderungen von verwaisten Handys auf der Straße und von Verzweifelten, die aus den brennenden Zwillingstürmen springen, gelingen McDonell im zweiten Teil des Buches. Im dritten Teil führt McDonell sodann das sukzessive Scheitern einiger Strategien zur Bewältigung des Traumas in einer atomisierten US-Kultur vor. So bietet die Familiengeschichte weder Halt noch Identität, begreift Mike:
„Wir hatten eine Familienlegende, aber vermutlich gab es eine andere Familienwahrheit. War mein Urgroßvater wirklich ein mutiger Goldgräber, oder ist er bloß nach Kalifornien gegangen und hat sich alles Mögliche zusammengeklaut?“
Leere spürt Mike auch im Gottesdienst. Alle sind, wie er schreibt, ein wenig „spirituell“ und sitzen „abends gerne mal in der Kirche“. Der angeblich so feste amerikanische Glaube entpuppt sich als ausgehöhlte Form. Halt kann auch das intellektuelle Establishment nicht bieten: Einen hilfsbereiten, alten Professor lässt Mike nicht an sich heran:
Jener lebensferne Gebildete glaubt, mit vernünftigen Gesprächen, dem Anbau eigener Tomaten, Waldspaziergängen, dem wissenschaftlichem Studium und einem Glas Wein ließen sich alle Probleme lösen.
So schreibt Mike am Ende abgekapselt Briefe an jenen phantasierten dritten Bruder, sucht offensichtlich und ohne Erfolg Anschluss an das Abgespaltene in sich. Den Leser lässt der Wechsel in die Ich-Perspektive zunächst stutzen. Allerdings wird die Hauptfigur dadurch viel glaubhafter als vorher und die Schilderungen geraten authentischer und beklemmender. Das Schreiben als letzte, zum Scheitern verurteilte Bewältigungsstrategie – so endet der Roman, so positioniert sich auch der Autor McDonell literaturtheoretisch.
Die kargen Sätze transportieren die Zersplitterung von Mikes Erfahrung, oft aber wirken sie – im Deutschen wie im Englischen – gewollt lakonisch und zusammenhanglos. Leider lässt sich auch die Mischung aus Derbheit und Verzweiflung gewisser amerikanischer Ausdrücke nicht ins Deutsche übersetzen. Unverzeihlich ist, dass mal ein Satz, mal ein ganzer Absatz in Thomas Gunkels Übersetzung fehlt.
Am Ende bleiben der Terroranschlag und die Familiengeschichte unverbunden. Der 11. September fungiert auf der Bildebene als eine überhöhte Widerspiegelung der Familientragödie, wird aber inhaltlich in die Themen Verkennung und Selbsttäuschung kaum einbezogen. Gerade eine Erklärung der Katastrophe wäre interessant gewesen. So gerät alles zu einer Kaskade von unverbundenen Schicksalsschlägen, gerichtet gegen die gutsituierte, wehrlose und innerlich längst zerbrochene amerikanische Kleinfamilie.
Trotz der anfänglichen, viel versprechenden Reise in die Fremde siegt am Ende eben doch die amerikanische Nabelschau.
Nick McDonell: „Der dritte Bruder“, erschienen bei Kiepenheuer & Witsch und aus dem Amerikanischen übersetzt von Thomas Gunkel.
Rezensiert für den Büchermarkt im Deutschlandfunk.