Eben noch war Ich-Erzähler Roman auf dem abendlichen Nachhauseweg. Roman, ein junger Moskauer, der es nicht auf die Uni geschafft hat, weil er dumm, ehrlich und politisch zu unkorrekt im Bewerbungsaufsatz schrieb: „Ich liebe unsere grausame, ungerechte, unter Dauerfrostbedingungen existierende Gesellschaft“. Ein Verlierer, auf den die Arbeitskollegen im Supermarkt einhacken. Ein Werbespruch lockt ihn in eine Hinterhofwohnung:
„Nutzen Sie die Chance zum Eintritt in die Elite! Garantiert einmalig!“
Roman wird hinterrücks betäubt und erwacht gefesselt in einem luxuriös antikmöblierten Zimmer. Auf dem roten Sofa vor ihm sitzt ein weltmüder, todgeweihter Vampir, der seinen Nachfolger in der Gemeinschaft der Vampire offensichtlich im vertrottelten Roman gefunden hat. Willkommen in Viktor Pelewins recht eigenwilliger, tollkühner, versponnener Welt. Der Autor hat sie abseits aller Genrekonventionen à la Graf Dracula ersonnen. Bei ihm sind die Schattenwesen popkulturell bewandert und dichten Verse mit Anspielungen auf Horrorfilme wie etwa „Alien“. Außerdem sind sie übermenschlich stark, weil sie so genannte „Todesbonbons“ aus dem Blut von Kung-Fu-Mönchen lutschen. Ansonsten saugen sie nach einem Biss kein Blut mehr, sondern die Gedanken der Menschen.
„Vielmehr baut sich zwischen Beißer und Gebissenem augenblicklich ein psychischer Kontakt auf, analog dem Täter-Opfer-Schema im sadomasochistischen Tandem. Das Opfer nimmt den Vorgang praktisch gar nicht wahr.“
Das Wissen aus dem Gedankenlesen ist Macht, die Vampire sind die verborgenen Herrscher der Welt, erfährt Roman in einem mehrwöchigen Einführungskurs in das Blutsaugerdasein von extra abgestellten Vampir-Lehrern. Durch den gesamten Roman gibt der Autor Viktor Pelewin den galanten Zertrümmerer der Metaphysik und nimmt dem Leser jeden Glauben daran, dass der Mensch das Zentrum der Schöpfung sei.
Solche Illusionen finden die Vampire im Buch ziemlich amüsant, schließlich habe der Mensch Gott nur erfunden, weil er den wahren Zweck des Menschendaseins nicht versteht: Seit Urzeiten Melkvieh der Vampire zu sein, lernt der erstaunte Roman. Pelewins Vampire ernähren sich zwar nicht vom Blut, aber von der mentalen Energie der Menschen. Und hier liegt das Zentrum dieser nicht nur philosophischen, sondern auch politischen Parabel: Die mentale Energie zapfen die Vampire besonders gut ab, wenn die Menschen, die sie beißen, von Geltungssucht erfüllt sind. Offenbar ist das gerade im postsowjetischen, konsumhysterischen Glitzerkapitalismus der Fall, und offensichtlich sind Russen besonders anfällig, meint Roman:
„Sich sinn- und gnadenlos größer zu machen, als man ist – das ist eine typisch russische Krankheit […]. Sie entspringt nicht einem besonders miesen Nationalcharakter, sondern der fatalen Kombination aus europäischem Raffinement und asiatischer Rechtlosigkeit, die die Crux unseres Lebens ausmacht.“
Schließlich wird Roman endgültig in die Vampirgemeinschaft aufgenommen: auf einer Initiationsfeier im Stile von Arthur Schnitzlers Traumnovelle. Hier trifft er die „Chaldäische Gesellschaft“, menschliche Führer, die mit den Vampiren zusammenarbeiten, um das Volk über die wahren Herrscher Russlands zu täuschen und sich selbst ein wenig Macht zu sichern. Nach dem Dritten Reich und dem „Vierten Rom der Globalisierung“, wie sie es nennen, folge nun die unumschränkte Herrschaft der Vampire: eben „Das fünfte Imperium“. Die Botschaft ist überdeutlich: Russland erscheint als korrupt, von Oligarchen, Gier und Geld beherrscht. Täuschung und Bluff regieren das Land. Von der einst so gepriesenen spirituellen „russischen Seele“ ist nichts übrig. Die Intelligenzija besteht aus angepassten, selbstverliebten Zitateklopfern und lächerlich piesackenden „Generalprovokateuren“ – echte Gesellschaftskritiker aber sind ausgestorben.
Pelewin schlägt viele ironisch-theoretische Volten, in einem Ton zwischen Soziologie und Monty Python. Einige leicht erschöpfende Dialoge zielen dabei zu sehr auf die bloße Darstellung von Pelewins absurdem Kosmos ab. Trotzdem bleibt diese Parabel spannend: Der Autor treibt seinen Helden durch Lehrgänge, Rätsel, eine unglückliche Liebe zu einer Vampir-Mitschülerin. Ein Duell, eine Intrige und ein donnerndes Finale zwingen geradezu zum Umblättern. Endlich mal wieder ein Buch, das seine Zeit nicht als braver Schlüsselroman mit altbackenem Realismus auf den Punkt bringt, sondern geradezu fantastisch einfängt.
„Das fünfte Imperium“ von Viktor Pelewin ist in der Sammlung Luchterhand erschienen. Es wurde von Andreas Tretner übersetzt, hat 399 Seiten und kostet 10 Euro.
Rezensiert für die Buchkritik in SWR2.