Wo andernorts noch Poetry Slams oder Literaturlesungen die Szene des gesprochenen Wortes dominieren, hat sich in New York längst ein anderer Trend etabliert: The Moth ist eine Institution im Big Apple, das Konzept bewegt sich irgendwo zwischen Poetry Slam, Lesung, Stand-Up-Comedy, Beichte, oral history und Theatermonolog. Die Idee: Man zahlt Eintritt, wirft einen Zettel mit seinem Namen in einen Hut und setzt sich ins Publikum. Nach und nach wird ausgelost, wer auf die Bühne kommt, und eine 5-minütige Geschichte frei erzählt, am Ende kührt eine Jury den Sieger des Abends. In Sälen und Kneipen von New York veranstaltet „The Moth“ seine modernen Geständnisshows mit Storys von gefeuerten Arbeitnehmern, ertappten Schummlern und blanken Mietern. Hier zeigt sich ein neues soziales Therapiemodell, fernab der glatten Stand-Up-Comedy, denn The Moth ist eine gemeinnützige Organisation und hier treten echte Leute auf.

„Ich wollte einen Job, also habe ich behauptet, ich könne Internetseiten gestalten. Dabei habe ich null Ahnung von Computern. Mein neuer Chef hat das ziemlich schnell gemerkt und mich sofort gefeuert.“

(Gelächter)

Die Moderatorin Ophira Eisenberg hat das Publikum aufgeheizt. Die junge Frau steht auf der beleuchteten Bühne in einer dunklen Kneipe in Brooklyn. „The Moth“ hat begonnen, das Motto an diesem Abend lautet: „Busted“, zu deutsch: „ertappt“, und Ophira führt den Teilnehmern noch einmal vor, was gefragt ist: eine Geschichte mit Anfang, Mitte und Schluss, fünf Minuten lang. Nach und nach steigen die zehn Erzähler des Abends auf die Bühne.

Lindsay etwa, kurze, blonde Harre, beiger Rock, erzählt von einer Lebenskrise, in der sie Geld brauchte und sich als Teilnehmerin einer parapsychologischen Reality-TV-Show bewarb.

„Ich schaffte es in die Show. Da habe ich Angst bekommen und dem Produzenten gestanden: Ich habe Euch belogen – ich bin gar nicht hellsichtig. Und er meinte nur: Das wussten wir doch von Anfang an! Die Moral von der Geschichte ist wohl: Manchmal kann man gar nicht ertappt werden, weil man selbst hereingelegt wird…“

Schummeln, Knausern, Scheitern, Wandel – die derzeitigen Themenabende träfen einen Nerv beim Publikum, erzählt Jennifer Hixson, Organisatorin der Veranstaltung.

„In den vergangenen Story-Slams haben die Leute erzählt, wie sie buchstäblich einzelne Pennys gespart haben oder froh waren, ungestempelte Briefmarken noch einmal benutzen zu können. Das Publikum findet solche Verlierer total sympathisch. Gewinner dagegen sind unpopulär. Keiner will doch derzeit hören: Schaut her, wie toll ich bin.“

Immer wieder geht es an diesem Abend ums peinliche Erwischtwerden: von der strengreligiösen Mutter – wahlweise beim Sex oder beim Kopieren von Pornovideos, beim Bogenschießen auf wehrlose Gänse, bei der Drogenparty. Meist sind es Anekdoten aus der Teenagerzeit. Warum bloß erzählt keiner von seinen jüngsten Blamagen? Moderatorin Ophira Eisenberg:

„Witzigkeit definiert man oft als Tragik, die man aus der Distanz betrachtet. Vielleicht braucht man Abstand, um eine Geschichte gut erzählen zu können. Vielleicht wollen die Leute auch sichergehen und sagen: Keine Angst, so seltsam bin ich heute nicht mehr!“

Andere arbeiteten jüngere Konflikte hinter dem Schleier älterer Blamagegeschichten ab, vermutet Ophira. Wer will sich schon in der Krise als gegenwärtiger Tölpel darstellen, wo er vielleicht gerade einen Job sucht? Steve kann das verstehen. Er ist regelmäßig dabei, hat hier zigmal auf der Bühne gestanden. Natürlich hätte er als Informatiker an der Wall Street viel von der Finanzkrise zu erzählen, aber er sei vorsichtig.

„Neulich habe ich hier eine Geschichte aus meiner Zeit bei der US-Notenbank erzählt. Ich hatte da ständig Ärger mit so einem dämlichen britischen BWLer. Nach der Show hatte ich Angst, dass das die Runde macht und der Typ mich wegen Rufmord verklagt. Stattdessen sind Leute aus dem Publikum nach der Show zu mir gekommen und haben mir mitfühlend auf die Schulter geklopft!“

In einer Zeit, in der viele arbeitslos sind und auch private Bindungen brüchiger werden, bietet das Storytelling eine Ersatzfamilie. Nach dem Scheitern können die Teilnehmer hier die eigene Lebenserzählung neu ordnen und die Ironie als Einstellung erproben. Kein Wunder, dass „The Moth“ seine Veranstaltungen derzeit aus New York exportiert: nach Los Angeles, Chicago – und Detroit. Organisatorin Jennifer Hixson:

„Detroit ist das gebeutelte Herz der US-Autoindustrie. Die Stadt braucht Storyslams, die Leute leiden dort. Und das Geschichtenerzählen könnte die Menschen wieder mehr zusammenbringen.“

Das Publikum an diesem Abend mag aus 20 bis 30jährigen bestehen. Doch die Publikumslieblinge seien oft viel älter, schwärmt Jennifer Hixson und erzählt von einem alten, blinden Mann, der regelmäßig vom New York der 50er Jahre erzählt. Das rückt Einiges zurecht in einer Welt, in der ältere Menschen oft als nichts anderes gesehen werden als unproduktive Arbeitnehmer.

„Bei dieser Kunstform ist man besser alt als jung. Man kann Dinge besser bewerten und einordnen. Wovon können junge Leute schon erzählen – von Herzschmerz? Hat doch jeder schon erlebt! Als älterer Mensch aber ist man erfahrener und klüger!“

Sich Zeit nehmen, Zuhören, Beisammensein, gebrochene Identitäten durch Erzählungen festigen – vielleicht erprobt das hektische New York hier eine einfache Art der Krisenbewältigung.

„And the winner is…“

Der Gewinner des Abends heißt Gerald. Er schilderte, wie er sich weigerte, als seine Cousins ihn zum Ladendiebstahl überreden wollten. Tosender Applaus. So anarchisch und dreckig viele sich hier geben: Am Ende geht es um die gute alte Beichte. Selbst die Finanzkrise hat die öffentliche Moral wohl doch noch nicht untergraben…..

Für Corso im Deutschlandfunk.