Mürrischer Senior in karger Landschaft. Der Kanadier Michael Crummey erzählt in seinem Roman „Sweetland“ vom Niedergang Neufundlands. Konsequent bedrückend, aber bisweilen auch ein wenig zu langatmig.
Als Gastland der Frankfurter Buchmesse hat Kanada 2020 viel Aufmerksamkeit erhalten. Neben angelsächsischer, frankokanadischer Kultur und der Literatur der Ureinwohner gibt es allerdings eine oft vernachlässigte Region, die kaum jemand auf seiner literarischen Landkarte hat: Neufundland. Von dort meldet sich der 1965 in genau dieser Region geborene Michael Crummey mit einem Roman über den demographischen Wandel dieser absterbenden Provinz, nicht der erste dieses vielfach preisgekrönten kanadischen Autors.
Kanadische Literatur spielt meist in Großstädten wie Vancouver, Montreal oder Québec. In den Hintergrund rücken dabei ländliche Regionen, wie zum Beispiel das das Territorium Labrador und Neufundland an der Ostküste: seit 1949 kanadisch, ethnisch relativ homogen mit Nachfahren von Engländern und Iren besiedelt und wegen des sterbenden Bergbaus und eines Fischerei-Moratoriums bis in dieses Jahrhundert hinein im Niedergang begriffen. Und genau hier setzt im Jahr 2012 Michael Crummeys Roman „Sweetland“ ein.
Hauptfigur Moses Louis Sweetland ist fast 70 und einer der letzten Bewohner der gleichnamigen neufundländischen Insel „Sweetland“. Post, Fährdienst, Strom, all das lohnt sich einfach nicht mehr. Also bietet die Regierung jedem Bewohner 100.000 Dollar für eine Umsiedlung – aber nur, wenn alle wegziehen. Doch Moses Sweetland weigert sich bis zuletzt. Einst durch einen Industrieunfall entstellt, mit Pech in der Liebe geschlagen, hat er zudem so manchen Verwandten sterben sehen. Er musste seinen Job als Kabeljau-Fischer aufgeben und dann auch noch den als Leuchtturmwärter. Keine Frau, keine Kinder – die einzige Konstante im Leben ist für Moses seine Heimat, und die will er für kein Geld der Welt verlassen. Vielleicht ist die Landschaft durch Michal Crummeys nicht enden wollende Beschreibungen hier sogar die zweite Hauptfigur, rau, herb, abweisend – eben wie Moses selbst –, trefflich spröde und unendlich geduldig übersetzt von Peter Groth.
Ob Pfarrer, Verwandte, ein schleimiger Regierungsvertreter oder Nachbarn – niemand kann den alten Moses von einem Umzug überzeugen. Alle bringt er gegen sich auf und bekommt deshalb bald Drohbriefe und abgehackte Kaninchenköpfe geliefert. Michael Crummey inszeniert hier einen unerbittlichen Kampf – eines Mannes gegen alle, aber auch eines Mannes gegen den unabänderlichen Lauf der Zeit, gegen den Strukturwandel, gegen das Sterben einer jahrhundertealten Fischereikultur.
Zahlreiche Rückblenden in die dörfliche Vorgeschichte reichern die deprimierende Stimmung noch an. Wir erfahren von erzwungenen Heiraten und heimliche Affären, von Voyeuren und unehelichen Kindern, von verschwiegenen psychischen Krankheiten und Drogensucht, eben von allem, was die Monotonie dieser Einöde durchbricht. Insbesondere, wenn Crummey den Tod von Kindern schildert, gelingen ihm beklemmende Passagen, die man so nur selten liest.
Der geborene Neufundländer Michael Crummey hat ähnliche Stoffe schon oft behandelt: In seiner Kurzgeschichtensammlung „Flesh and Blood“ ging es um eine sterbende Bergbaustadt; im Roman „The Wreckage“ um Neufundland im Zweiten Weltkrieg; und im Roman „Die Unschuldigen“ sterben die Eltern eines Geschwisterpaars, das daraufhin in der kargen Landschaft Neufundlands auf sich allein gestellt ist.
Crummeys neuer Roman ist nun in der ersten Hälfte Sozialstudie, in der zweiten Hälfte eine Art düstere Robinsonade: Moses Sweetland ist alleine zurückgeblieben und kämpft bis zum überraschenden Ende ums Überleben. Bis dahin vereinsamt Moses so sehr, dass ihn schlimme Flashbacks zu früheren Unglücksfällen auf der Insel ereilen, ja, sogar Halluzinationen. Wenn er verbissen an der Heimat festhält, offenbart das die Tragik einer ganzen Region. Denn das Ausharren ist keine Heldentat, sondern schlicht die Hölle.
Ein wenig deplatziert wirkt dabei eine immer wieder erinnerte, zwischendurch weitererzählte Episode von Flüchtlingen aus Sri Lanka, die erratischerweise vor der Insel in einer Schaluppe ausgesetzt und von Moses gerettet werden. Ein wenig schielt das nach dem Zeitgeist, wenngleich der Insel-Pfarrer die Bootsflüchtlinge auf dem weiten Meer als existentialistisches Symbol deutet und damit in die Motivkreise des Romans einordnet: den Küstennebel, der jeden Hilferuf erstickt, vom Sturm entblätterte Hütten, abgenagte Tierkadaver, verlassene Müllkippen, sterbende Kinder… Verbunden mit so manchem Bibelvers schafft Crummey ein Gewebe voller Vergänglichkeit und Vergeblichkeit. Konsequent bedrückend durchdekliniert, allerdings mit einigen Längen.
Michael Crummey: Sweetland. Übersetzt von Peter Groth für den Mitteldeutschen Verlag. 400 Seiten kosten 26 Euro.
Rezensiert für die Lesenswert Kritik auf SWR2 – und hier für begrenzte Zeit nachzuhören.