Ob im alten anatomischen Atlas von Vesalius oder bei den modernsten medizinischen Bildgebungsverfahren: Hier geht es nicht nur um die Abbildung menschlicher Knochen, Sehnen, Muskeln, sondern auch um einen ästhetisierten Blick auf medizinische Fakten. Man richtet sich das Objekt zurecht und schafft Schönheit. Die Kunst kommentiert diese Bilder und deutet sie um. Darum geht es in einer Ausstellung, die seit vergangenem Sonntag im Kunstmuseum im westfälischen Ahlen zu sehen ist: „Diagnose: Kunst“ heißt sie und nimmt die Beziehung zwischen Kunst und Medizin in den letzten 20 Jahren in den Blick. Nicht also medizinhistorisch, sondern künstlerisch, mit Werken von Damien Hirst, Joseph Beuys, Luc Tuymans, Daniel Spoerri und anderen Künstler. Pascal Fischer hat sich die Ausstellung angeschaut.
Von Videosounds untermalt präsentiert die Künstlerin Marilène Oliver einen mannshohen Glasblock, in dem ein menschlicher Körper schemenhaft durchscheint: Die künstlerische Bearbeitung einer Kernspinanalyse, bei der der Mensch vom Computer in Scheiben zerlegt wird – Oliver hat diese Schnitte auch auf Plexiglasscheiben aufgemalt und diese Scheiben aufeinandergeschichtet. Nun entsteht daraus ein neuer Körper im Raum. Die Kunst also überarbeitet bildgebende Verfahren aus der Forschung und führt uns die Selbstentfremdung des Menschen durch die Medizin vor.
„Die Kernspintomographie ist das präziseste Untersuchungswerkzeug der Radiologie, um den Menschen darzustellen. Aber gerade das, was ihn zum Menschen macht, kann sie nicht darstellen!“
Ralf Scherer, Münsteraner Anästhesieprofessor, hat die Ausstellung zusammen mit einer Kunsthistorikerin kuratiert. Auf den drei Etagen mit klinisch weißen Wänden präsentiert das Kunstmuseum Ahlen eine inhaltsreiche Schau mit Bildern, Installationen und Videokunst, von 59 international bekannten, aber auch von noch unbekannten jungen Künstlern. Deutlich wird schnell, wie das Körperbild der Medizin und unser Selbstbild auseinanderfallen – und was Künstler seit den 80er Jahren auf sich genommen haben, um sich die neuen Bildwelten anzueignen:
ATMO Ulrichs Körpermusik
Timm Ulrichs vollzieht auf einem Monitor die erste Kamerafahrt durch den gesamten Körper, angefangen am Mund.
„Da sind mir alle Mittel recht: Ich kann als Künstler viel offensiver mit diesen Techniken umgehen.“
…und sie vor allem in die Öffentlichkeit rücken – was viele der vertretenen Künstler – eben anders als Ärzte – radikal tun:
Barbara Hlali zeichnet Studenten im Sezierkurs, Annette van der Voort fotografiert konservierte Embryonen. Unter dem Mikroskop teilen sich gezüchtete Tumorzellen einer seit 50 Jahren toten Afroamerikanerin, auf wandfüllenden Fotos dokumentiert die französische Künstlerin Orlan ihre aufgeschnittene Gesichtshaut bei ihrer Kunstaktion, der eigenen Schönheits-OP.
Eindringliche Werke, die fragen, wie weit die Medizin in unser Leben eingreifen darf.
ATMO Jaume Plensa Love Sounds
Ausgelegte Infoblätter und ein ausführlicher Katalog helfen bei den oft abstrakten Themen weiter. Die Ausstellung ergreift den Besucher aber auch, indem sie den Umgang der Künstler mit ihrer eigenen Krankheit dokumentiert: Zu sehen sind Porträts des gelähmten Malers Chuck Close, blutgefüllte Wurfpfeile des verzweifelten und ausgegrenzten AIDS-kranken Künstlers Barton Benes, aber auch Objekte von Joseph Beuys, der trotz oder wegen seines Herzinfarkts einmal sagte: Krankheit lehne ich ab.
Kunst als Therapie? Das nimmt Marc Gilbert ernst, der Patienten vor, während und nach der Entfernung von Tumoren im Mund- und Halsbereich malt – mit Erfolg, weiß Prof. Scherer:
„Man glaubte da nachgewiesen zu haben, dass die Patienten mit ihrer Entstellung besser fertig wurden als die Patienten, die diesen Kontakt zum Künstler nicht hatten.“
ATMO Sheehan
Alles wird machbar: Künstliche Verdauungssysteme in Reagenzgläsern und neuerschaffene Lebewesen. Beuys-Schülerin Katharina Sieverding wiederum lässt die Besucher durch eine Installation von Bildern und Spiegeln laufen. Neben Totenschädeln sieht sich der Mensch unendlich vervielfacht: Ein Versuch, die Reduktion des medizinischen Menschenbildes zurückzunehmen.
„Die Kunst leistet das, dass sie den ganzen medizinischen Bereich öffnet in Dimensionen, die früher selbstverständlich waren und die durch die Verwissenschaftlichung verlorengegangen sind.“
Die Heilsversprechen der modernen Medizin entlarven die Künstler der Ausstellung auf viele Arten.
ATMO Wallinger
Eine Chirurgenstimme buchstabiert die Genesis, als ob sie zu einem narkotisierten Patienten im Operationssaal spräche. Ist die Hochtechnologie vielleicht unsere neue Religion des Abendländers? Auf jeden Fall weisen viele Werke auf die medizinische Verdrängung des Todes hin. Damien Hirsts Werk „Das letzte Abendmahl“ präsentiert übergroße Medikamentverpackungen mit harmlosen Namen wie Omelette, die Wirkstoffangaben aber verweisen auf Krebsmedikamente. Das lege nahe, meint Professor Scherer, …
„…dass alles, was die Medizin noch liefern kann, im Grunde doch nur ein letztes pharmakologisches Abendmahl ist und dass der Mensch sein Seelenheil doch woanders finden wird.“
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