Alban Nikolai Herbst frühe Erzählungen sind erschienen. Sie zeigen, welche ästhetischen Wege der Autor in seinen frühen und mittleren Werkphasen durchschritten hat. Ein Lesegenuss!
Das Leben von Alban Nikolai Herbst, geboren 1955, war und ist ein bewegtes: Lehre zum Rechtsanwaltsgehilfen, Zivildienst, Studium der Philosophie, Geschichte und Sozialwissenschaften, Broker, schließlich ab 1994 Schriftsteller und wohnhaft in Berlin. Als Autor spaltet Herbst gewissermaßen die Zunft der Literaturkritiker. Für die einen wortreicher Hochstapler, für die einen Lichtgestalt der literarischen Postmoderne. Wahr ist auf jeden Fall: Seine backsteinartigen Romane sind ästhetisch eigenwillig, doppel- bis dreifachbödig und folgen damit seit einigen Jahren einer Internet-Ästhetik der weitverzweigten Assoziationen. Nicht von ungefähr betreibt der Autor auch seit 2004 ein literarisches Weblog namens „Die Dschungel. Anderswelt“.
Dabei hat Herbst stilistisch und motivisch ein wenig anders angefangen, wiewohl Vieles im heutigen Werk schon früh angelegt schein. Der Septime-Verlag in Gestalt von Elvira M. Groß hat nun auf den Wunsch der Herbst-Fans hin repräsentative Erzählungen und Novellen aus den vergangenen Jahrzehnten zusammengetragen, die in zwei Bänden erscheinen. Band eins ist seit diesem Frühjahr auf dem Markt, bietet Erzählungen von Herbst bis zu den frühen Neunzigern – und die begeistern.
Bände mit gesammelten Erzählungen sind natürlich ein ambivalentes Vergnügen. Manchmal langweilen sie, weil alles allzu ähnlich scheint. Nicht so bei Alban Nikolai Herbsts Band „Wanderer“: Die Erzählungen und Novellen hier zeigen einige früh im Werk angelegte Motive, aber auch ästhetische und inhaltliche Nebengänge in einem heute labyrinthischen Werk. Und so lässt das Buch famos das Werden eines Schriftstellers erkennen. Herbst flankierte seine großen Romane immer mit kleineren Etüden nebenbei, erzählt er:
„Worauf Elvira Groß und ich besonders geachtet haben, ist, dass wir zwar alle auch diese sehr frühen Texte auf ein gutes stilistisches Niveau bringen, aber zugleich doch versuchen, die Jugend zu erhalten, die in einigen dieser Texte noch drin ist. Denken Sie an den alten Herrn Wieczorek, der stirbt. Das würde ich heute so, mit einem 64-jährigen, skeptischem Blick, nicht mehr schreiben. Dieses jugendliche Pathos: ‚Ich möchte endlich leben!‘ “
Zitat: „Doch er erlosch, dieser Satz, zerfaserte in dem leichten Zugwind, der durch das geöffnete Oberlicht wehte, und mit ihm losch es den Sterbenden aus.“
Einige weitere kurze, existentielle Erzählungen umkreisen das Thema Endlichkeit und Tod. Insgesamt ist interessant, was Herbst nicht mehr weiterverfolgt hat: Früh finden sich gewagte Neologismen: Da „glimmt“ der Himmel als „schmutzigheller Zement“ und Fenster sind „pupillenlose Augen“. Seine ‚neoexpressive Phase‘ von 18. bis zum 22. Lebensjahr, alles in Anlehnung an August Stramm, nennt der Autor das und lässt diese Experimente schließlich fallen. Ebenso das Schreiben im Bremer Dialekt: Einige Texte versuchen sich an den ungewohnten Nuancen abseits der Hochsprache. Sie sind, mit Verlaub, nur bedingt lesbar. Die Sprache nimmt sich dahingehend bald zurück – und lässt den phantastischen Inhalt umso klarer hervortreten. Etwa in „Azreds Buch“, einer Hommage an die Horrorgröße H. P. Lovecraft, durchzogen von dessen typischen Motiven: geheime Schriften, Kulte aus alter Zeit, Menschenopfer und alptraumhafte Visionen:
Zitat: „Menschen, die mir eigentlich vertraut sind, verändern sich binnen Sekunden … sie verformen sich, […] Lippen und Kiefer verzerren sich wie Gummimasken, Nacken buckeln nach Katzenart, oder meiner Sekretärin sitzen Käfer auf Oberarmen, Schultern, Dekolleté.“
Alban Nikolai Herbst kommentiert:
„In dieser Art würde ich mein Verhältnis zu Lovecraft sehen: Das ist ein extremer Ideengeber mit einer geradezu glühend schwarzen Phantastik, der man aber dann, denke ich, die literarische Raffinesse noch beiwürzen muss. Und da zeige ich dann eben ganz gerne, wo meine Eck-Marken sind, wo ich glaube, dass die wirklich bedeutenden Autoren sind, und füge das in die Texte ein.“
In einige Geschichten streut der Autor gerne Hinweise auf Bonaventura, Fjodor Dostojewski, Edgar Allan Poe, Arno Schmidt und Jorge Luis Borges ein. Herbst könne dem Nachkriegsdogma des Neuanfangs, der diskreditierten schwarzen Romantik nicht folgen. Er lasse sich weder Pathos noch Drastik verbieten, sagt er – und das zeigen die Geschichten. Ein Pärchen zerfleischt in der Freizeit Tiere und erschießt einen Menschen um des realistischen Kicks willen; eine Party unter Jugendlichen endet blutig; ein Serienkiller hackt allen Opfern einen Fuß ab… Alban Nikolai Herbst ordnet das ein:
„Der größte Teil der Menschheit ist permanent mit derartiger Grauenhaftigkeit konfrontiert – und zwar im Alltag. Ich kann, wenn ich eine Literatur schreiben will, die auch geschichtlichen Rang hat, nicht davon absehen. Da wird eine Literatur, die sich darum quält, dass wir noch immer nicht die 28-Stunden-Woche haben, geradezu marginal. Das kann ich nicht ernst nehmen!“
Dabei mischt sich trotzdem oft eine große Zärtlichkeit in die Erzählungen: Mehrfach etwa liebt da ein Jüngling ein unergründliches Mädchen, das möglicherweise eine Elfe ist. Oder sogar nur ein Traum? Auffällig oft sind die Hauptfiguren Außenseiter, die an ihrer eigenen Wahrnehmung zweifeln – biographische Spuren des eigenen Außenseiterlebens, erzählt Herbst im Interview. Und was überhaupt am Ende die Realität ist, lässt der Autor in den meisten Geschichten in verunsichernder Weise offen.
Zitat: „Das entspricht meiner meiner früheren Wahrnehmung. Mittlerweile bin ich der Überzeugung, dass diese Wahrnehmung richtig ist, undzwar zunehmend richtig wird, da jetzt, gerade nach dem Siegeszug der neuen Medien, wirklich keiner von uns mehr entscheiden kann, ob irgendeine Information, die wir bekommen, der Realität entspricht oder nicht.“
Internetästhetik avant la lettre. Mal findet Herbst dafür unglaublich kreative Szenarien. In „Joachim Zilts‘ Verirrungen“ etwa entdeckt der Protagonist hinter Löchern in der Tapete ein Gangsystem, das zu unendlich vielen Parallelwelten führt, in denen er seine Existenz in allerlei Varianten erleben kann. Eine Parabel auf das Linkuniversum im Netz, aber auch gleichermaßen auf den Schwindel, der uns angesichts unserer Wahlmöglichkeiten heutzutge erfasst. Andere Erzählungen spielen auf typisch postmoderne Weise mit der Autorrolle:
Zitat: „Hans Erich Deters ist der Urheber meiner Bücher. Er hatte damals gar nichts dagegen, sein Pseudnoym, also mich, lüften zu lassen, weil er meinte, mir glaube ohnedies niemand.“
Dort verwischen die Grenzen zwischen Autor, Erzähler und Figuren; Geheimgesellschaften winken mit Büchern, in denen Verweise auf die Welt oder eben Parallelwelten zu finden sind. Mancher mag das schon geradezu literaturhistorisch finden, aber ganz unerwartet können einzelne Texte auch in heutige Debatten eingreifen: So etwa „Geliebte Männer“, ein freches, politisch unkorrektes Spiel mit Geschlechterklischees. Hier behauptet eine Figur subversiv, erst durch die Unterdrückung der Frau hätten Frauen die geheime Kunst der leidenschaftlichen Affäre ausgebildet und seien die eigentlichen… Herren!
Zitat: „Nur, wo es Tabus gibt, sind Orgien möglich. Deshalb lieben Frauen besser, und deshalb, seien wir ehrlich, schätzen sie es, unterdrückt zu sein. Das können Männer lernen, erst dann taugen sie zu Geliebten. Ein Ehemann ist für die Liebe verloren.“
Es sei verraten: Am Ende dieses Textes ist die Frau die moralische Siegerin. Und viele Männerfiguren vergöttern die Frauenfiguren im Buch geradezu. Trotzdem würde Alban Nikolai Herbst auch heute noch dafür kämpfen, dass Literatur ausprobieren, spielen, forschen, ambivalent sein darf, sich Ästhetik nicht vollständig der herrschenden Moral unterwerfen darf:
„Das Problem ist, dass diese Art von Festschreibung, von Normierung uns gefangen setzt und niemandem Freiheitsraum lässt. Und Sie werden das auch in vielen meiner Erzählungen merken, dass ich völlig anders mit Geschlechtlichkeit umgehe, als das jetzt gegendert erlaubt ist, weil es einfach nicht darum gehen kann, dass etwas erlaubt ist, sondern es einfach nur darum gehen muss, ob etwas ist – und wie wir mit dem, was ist, kulturvoll umgehen. Das wäre meine Position!“
Verschmitzt ließe sich schlussendlich sagen: Diese 600 Seiten sind äußerst divers: Ein Lesegenuss! Man darf gespannt sein, wohin die Reise im Band II der Erzählungen ästhetisch geht!
Alban Nikolai Herbst: Wanderer. Erzählungen I. Mit einem Nachwort von Elvira M. Gross. Erschienen im Wiener Septime Verlag. 600 Seiten kosten 29 Euro. Band II, „Wölfinnen“ ist für den 2. September geplant.
Rezensiert für das Lesenswert Magazin auf SWR2.